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. 5/2001
UNI-INFO
Inhalt 5/2001
Thema
Die holländische Tomate - eine Spätfolge des
Calvinismus?
Über religiöse Wurzeln der Mentalitätsunterschiede zwischen
Niderländern und Deutschen / Von Anabella Weismann
Kürzlich ist das Buch "Die Niederlande und Deutschland -
Einander kennen und verstehen" in deutscher und niederländischer
Fassung erschienen. Herausgeber sind die Politikwissenschaftler Gebhard
Moldenhauer (Universität Oldenburg) und Dr. Jans Vis (Universität
Groningen). Zu den AutorInnen gehört auch die Oldenburger Sozialwissenschaftlerin
Prof. Dr. Anabella Weismann. Uni-Info druckt aus ihrem Beitrag "Die
holländische Tomate - eine Spätfolge des Calvinismus. Über
religiöse Wurzeln der Mentalitätsunterschiede zwischen Niederländern
und Deutschen" einige Auszüge ab.
Im Folgenden möchte ich an einigen auffälligen Unterschieden
im Verhalten bzw. in den Auffassungen von Niederländern und Deutschen
versuchen, die Bedeutung der religiös-dogmatischen Differenzen zwischen
Luthertum und Calvinismus für diese je spezifischen Mentalitätslagen
darzulegen. Den großen dogmatischen und in seinen sozialen, ökonomischen
und kulturellen Konsequenzen so bedeutsamen Unterschied zwischen Lutheranern
und Calvinisten machen die calvinistische Prädestinationslehre, das
Bilderverbot und die unterschiedliche Lösung des Theodizee-Problems
aus.
Die für die Niederlande virulente Auffassung der Lehre von der doppelten
Prädestination einiger weniger zu Auserwählten (electi) und
der großen Masse zu Verworfenen (reprobati) ist in den fünf
Artikeln der Dordrechter Synode (1618-1619) formuliert:
"1. Der Mensch ist von Natur aus verderbt.
2. Die Erwählung des Einzelnen erfolgt bedingungslos.
3. Christus starb nur für die Erwählten (begrenztes Sühneopfer).
4. Gott kann alles vollbringen, was er will (die Gnade Gottes kennt keine
Grenzen).
5. Diejenigen, die Gott erwählt, werden sich ihrer Berufung nicht
entziehen (Beharrung in der Gnade)" (zit. nach McGrath, Johann Calvin,
S. 278)."
Die
Bedeutung des calvinistischen radikalen Bilder- und Vorstellungsverbotes
für die Unterdrückung der Phantasie und des symbolischen Denkens,
wie sie sich in den katholischen Werkdiensten und den Heiligenlegenden
geradezu "austoben" konnten, liegt auf der Hand. Stattdessen
hat sie die bürgerlichen Genres der Malerei mit ihrem vordergründigen
Realismus und damit die scharfe Beobachtungsgabe sowie den Empirismus
überhaupt gefördert und nicht zuletzt - wie im Islam - die Kalligraphie,
welche in den calvinistischen bzw. puritanischen Ländern besonders
hoch entwickelt ist. Symptomatisch für das Misstrauen gegenüber
einer ungegängelten Phantasie scheint mir der holländische horror
vacui vor leeren Flächen, die man möglichst vermeidet bzw. durch
optische Rechteck-Gitterstrukturen auflöst. Unterschiedlich gemusterte
Backsteinmauern, kleingegliederte Sprossenfenster, unterschiedlich gepflasterte
Trottoirs, schachbrettartige geflieste Fußböden etc. bestimmen
noch heute das Straßenbild und die Innenansichten offizieller Gebäude.
Gott siezen und den Chef duzen
Niederländer finden es höchst komisch, dass die Deutschen sich
untereinander siezen, selbst wenn sie sich schon lange kennen. Für
die Deutschen ist das Duzen Ausdruck eines vertrauten, intimen Umgangs
miteinander; aber ausgerechnet ihren Herrgott duzen sie wiederum. Umgekehrt
finden die Deutschen es komisch, dass die Niederländer sich sehr
schnell untereinander duzen, selbst ihren Chef (was nichts an den hierarchischen
Verhältnissen ändert), aber ihren Herrgott siezen.
Der calvinistische Gott ist eher der Gott des Alten Testamentes, ein
"deus absconditus", mit dem man keinen vertraulichen Umgang
pflegt; ein Gott, der in seinem unergründlichen Ratschluss bereits
vor dem Sündenfall Adams beschlossen hat, einige Wenige zum ewigen
Leben auszuerwählen und die Übrigen zu verwerfen. Christus,
Gottes Sohn, ist nur für die Auserwählten am Kreuz gestorben.
Diesen allmächtigen Gott zu duzen, wäre vermessen. Luthers Gott
hingegen ist eher der liebende, gütige Gott des Neuen Testamentes.
Die "Rechtfertigung", die Reinwaschung von den Sünden durch
die Gnade Gottes, geschieht Luther zufolge nicht durch "gute Werke",
sondern allein durch den Glauben.
Die große Distanz zwischen calvinistischem Gott und Gläubigen
verringert die sozialen Distanzen der Gemeindemitglieder untereinander.
Sie alle sind vor Gott gleich und haften zudem als Kollektiv solidarisch
gegenüber Gott dafür, dass nur der Würdige und Auserwählte
das Abendmahl erhält, es aber auch erhalten muss. Woran erkennt man
aber die Auserwählten? Calvin betonte noch, dass es keine äußerlich
sichtbaren Anzeichen des Erwähltseins gäbe. Aber seine Nachfolger
lehrten, dass neben einem strengen, christlich-sittlichen Lebenswandel
vor allem Erfolge im Leben und in den Geschäften Anzeichen der Erwähltheit
seien. So wurde die Arbeit als Beruf(ung) das einzige Mittel, sich der
Gnade zu versichern, wobei für die Entwicklung des modernen Kapitalismus
bedeutsam ist, dass sich die für Lohnarbeiter und kapitalistische
Unternehmer unterschiedlichen Zeichen des Gnadenstandes gegenseitig bedingen:
Dem erfolgreichen Aubeuten und Gelderwerb des einen entsprach das intensive
systematisch und gehorsam Sich-Ausbeuten-Lassen der anderen.
Der Calvinismus kennt eine Kollektivverantwortung der Laien in essentiell
religiösen Angelegenheiten, die nur durch permanente soziale Kontrolle
- institutionalisiert in Kirchenordnung und Kirchenzucht - wie Selbstkontrolle
zu erreichen ist. Dass dies den Kollektivgeist fördert, liegt auf
der Hand. Mit der gegenseitigen Verantwortung der (säkularisierten)
Gemeindemitglieder füreinander hängt sicher auch die - im Vergleich
zu Deutschland - noch heute hervorragend funktionierende Nachbarschaftshilfe,
selbst dem/der Fremden gegenüber, zusammen.
Bei Luther hingegen ist das Verhältnis des Gläubigen zu seinem
Gott ein intimeres. Die Versenkung in der unio mystica ist eine per se
individualistische Angelegenheit, das heißt, der Kollektivgeist
wird nicht gefördert, und für die Austeilung des Abendmahls
ist der Pfarrer allein verantwortlich, wie überhaupt die Laien in
der lutherischen Kirche kein nennenswertes Mitbestimmungsrecht haben.
Da die Lehre von der doppelten Prädestination keine Rolle spielt,
sind permanente Beobachtungen und Kontrollen der Nachbarn und Gemeindemitglieder
bezüglich deren Würdigkeit wie auch die systematische Selbstkontrolle
nicht notwendig.
Kleine Kaffeetassen: Bloß keine Exzesse
Den ersten Kulturschock erleben Ausländer in den Niederlanden, wenn
sie zum Kaffee eingeladen werden. Die Tassen sind klein, die Löffel
noch kleiner, dienen allerdings nur zum Umrühren; der Zucker, von
dem zumeist reichlich genommen wird, wird mit einem speziellen silbernen
Zuckerschippchen portioniert. Wenn dann jeder in seiner Tasse rührt,
kommt die Frau des Hauses mit einer ramponierten Blechdose, hält
sie geöffnet dem Gast unter die Nase, der sich aus dieser einen Keks
nimmt, woraufhin sofort der Deckel wieder geschlossen und die Dose weggestellt
wird. Die deutsche Gepflogenheit, einen Teller mit Keksen oder Kuchen
in die Mitte des Tisches zu stellen, wird aus niederländischer Optik
als Unmäßigkeit betrachtet.
Vor dem Hintergrund des Zweiten Gebotes wird deutlich, dass die Keks-,
Kaffee-, Bier- und anderen Genüsse "klein" sein müssen,
da jeglicher Genuss im Verdacht der "Kreaturverherrlichung"
steht. Dies Prinzip kann man wohl auf jegliches Handeln übertragen
nach dem Motto "nur keine Exzesse!", was im Niederländischen
mit "doe maar gewoon dan doe je al gek genoeg!" [sei normal,
normal ist schon verrückt genug!] umschrieben wird. So lässt
sich auch die niederländische Ambivalenz gegenüber der Arbeit
begreifen. Einerseits würde man vor dem religiös-historischen
Hintergrund die harte Arbeit als eine vom Calvinismus geprägte nationale
Tugend vermuten (was sie für die Unterschicht stets war), andererseits
ist gerade die Einstellung "arbeiten um zu leben und nicht leben
um zu arbeiten" in den Niederlanden populär, während das
Umgekehrte eher den Deutschen unterstellt wird, die als über Gebühr
gründlich, fleißig und gewissenhaft in ihrer Arbeit gelten.
Verklemmt und etwas weniger verklemmt
Wenn schon harmlose Genüsse im Verdacht der "Kreaturverherrlichung"
stehen, um wie viel mehr dann die Liebe und die Sexualität. Wer seine
Frau bzw. seinen Mann liebt, kann der noch Gott lieben? Der Unterschied
zwischen calvinistischem und etwas weniger 'verklemmtem' lutherischen
Umgang mit der Sexualität lässt sich nur auf komplex-minimale
Differenzen in den entsprechenden Familien- und Sexualethiken zurückführen:
"Das Luthertum gibt mit der Erbsündelehre die Konkupiszenz völlig
als sündlich preis, läßt aber das triebhaftsündige
Element in der Einschränkung durch die Ehe bestehen, während
der Calvinismus jene Sündhaftigkeit weniger betont, dagegen die Eheführung
unter die strengste rationale Kontrolle ihrer Leistung für das Gemeinwesen
stellt und die triebhafte Leidenschaft durch sachliche Erwägungen
und Abzweckungen bricht." (Troeltsch, Soziallehren, S. 732f.)
Dies hat in den Niederlanden einerseits dazu geführt, dass die Stellung
der Frau in der Ehe weit weniger autoritativ war und ist als im katholisch-lutherisch
geprägten Deutschland, andererseits zu einer stärkeren Triebunterdrückung.
Gegen welche Widerstände die gesellschaftlich nützliche Versachlichung
der Sexualität antreten muss(te), lässt das exsekratorische
Verhalten der Niederländer ahnen, die, im Gegensatz zu den anal fluchenden
Deutschen, genital fluchen.
Vom Mythos der niederländischen Toleranz
Die Toleranz als nationale Eigenschaft gehört zum Selbstbild wie
Fremdbild der Niederländer. Sie ist historisch begründet durch
die berühmte Sylvesteransprache Wilhelms von Oranien 1564, in der
er die Abschaffung der Inquisition und der Ketzeredikte forderte. Tatsächlich
herrschte in der jungen Republik keineswegs Glaubensfreiheit: Erst im
Laufe des 17. Jahrhunderts erhielten die Remonstranten, Katholiken, Täufer
und Lutheraner Gottesdienstfreiheit, vorausgesetzt ihre Gotteshäuser
waren nicht als Kirchen erkennbar. Gesellschaftliche Emanzipation erlangten
die Katholiken erst im 19. Jahrhundert.
Nicht nur in historischer Hinsicht ist der Begriff der niederländischen
Toleranz problematisch, auch in aktueller: Es handelt sich eher um eine
Art Gleichgültigkeit, ein freundliches Desinteresse, wenn man so
will eine passive Toleranz im Gegensatz zur aktiven Toleranz, die Kommunikation
und Interaktion mit dem/den Anderen voraussetzt. Die Toleranz im Sinne
von freundlicher Gleichgültigkeit hat ebenfalls religiöse, calvinistische
Wurzeln: es ist die Haltung des sich seines Gnadenstandes gewissen Gläubigen.
Überzeugungsarbeit als säkularisierte Missionierung wird nicht
geleistet; der Alt-Calvinismus kennt keine Missionierung, sie wäre
nur Zeitverschwendung, mit der man zudem Gott noch ins Handwerk pfuschen
würde. Was aus ausländischer Perspektive als politische Toleranz
gegenüber gesellschaftlichen Randgruppen einerseits und liberalere
Handhabung strafrechtlicher Bestimmungen (beispielsweise bezüglich
Abortus oder Drogen) erscheint, entspringt einem politischen Pragmatismus,
der dem niederländischen Rechtssystem innerhalb des Strafrechts große
Spielräume für Opportunitätserwägungen einräumt,
während im deutschen Strafrecht dergleichen Spielräume extrem
gering sind.
Die holländische Tomate als calvinistische Spätfolge
Wer je in eine sonnengereifte südeuropäische Tomate, frisch
vom Felde gepflückt, gebissen hat, weiß wie Tomaten schmecken
können. Den calvinistischen Niederlanden hingegen blieb diese Frucht
bis heute ein Problem. Nachdem der Export holländischer Tomaten nach
Deutschland von 1990 bis 1994 um fast 50 Prozent zurückgegangen war,
startete die niederländische Agrarwirtschaft unter dem Slogan "Ackern
für Deutschland" eine Werbekampagne mit einem jährlichen
Budget von 4,5 Millionen Gulden. Den Niederländern scheinen die eigenen
Tomaten allerdings nach wie vor nicht zu schmecken, wie der geringe Pro-Kopf-Verbrauch
von 4,2 kg zeigt, während die Deutschen mit 8,8 kg mehr als das Doppelte
konsumieren.
In ihrer vollkommenen äußeren Gestalt, prall, rund, sinnlich,
glänzend, fleckenlos, strahlend rot, ist die holländische Tomate
eine bleibende Erinnerung an das verlorene Paradies. Auch wenn man ihr
präsentables Äußeres utilitaristisch rationalisierend
als Verkaufsanreiz interpretiert: Sie bleibt Erinnerung an und Verlockung
zu ungehemmten Sinnenfreuden, Erinnerung an ein Utopia ohne Arbeit und
ohne moralische Beschränkungen. Und dann der plötzliche Wechsel
von der Augenlust zur Realisierung der Begehrlichkeit im Biss hinein -
der fade, wässrige, papp-styroporartige Geschmack erinnert unmittelbar
an das calvinistische Zweite Gebot, das Bilderverbot, das für Luther
so unwichtig war, dass er es unter das erste subsumierte: "Du sollst
Dir kein Bildnis noch Gleichnis machen...", du sollst dir nicht in
deiner Phantasie eine glückliche, lustbetonte, freudvolle Welt ohne
Sorgen und Schufterei ausmalen. Du sollst nicht genießen, Genuss
ist Wollust, Wollust ist Sünde, Kreaturverherrlichung, Abgötterei:
"Bete sie nicht an und diene ihnen nicht..." Deshalb wird in
den calvinistisch geprägten Niederlanden die Tomate nicht als Objekt
des Genusses, sondern als Handelsobjekt gezüchtet.
Name und äußerliche Schönheit der Tomate als Abglanz
des Paradieses weisen auf das Jenseits, aber auch auf die Ursachen der
Vertreibung aus dem Paradies: Der Mensch aß, von Schlange und Weib
verführt, die Frucht vom "Baum des Wissens, was Gut und Böse
ist" - wie es in der niederländischen wörtlichen Bibelübersetzung
heißt. Und so wie das verführerische Äußere der
holländischen Tomate einen Abglanz des Paradieses und der kommenden
Herrlichkeit bewahrt, so erinnert der Biss hinein immer wieder erneut
schmerzlich an den Sündenfall und die ewige Zweiklassengesellschaft
von vielen Verdammten/reprobati und wenigen Auserwählten/electi.
Und da wir nicht wissen, zu welcher Klasse wir gehören, kann die
kleine Freude des Augenschmauses uns nicht über die Unsicherheit
unseres Schicksals in der Ewigkeit hinwegtäuschen. Die Angst um diese
Ungewissheit können wir nur - das ist der Kern der Weberschen These
von der protestantischen Ethik - 'arbeitstherapeutisch verdrängen'
durch fleißiges "Ackern" und häufen dabei ungewollt
Reichtümer, die sich weiter vermehren, da wir sie nicht genießen
können.
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