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Aus Wissenschaft und Forschung

Entlastung für Familien mit behinderten Angehörigen ist unverzichtbar

Oldenburger Forschungsprojekt unter Leitung von Prof. Thimm abgeschlossen

Mütter von behinderten Kindern sind oft bis an die Grenze der psychischen und körperlichen Leistungsfähigkeit erschöpft. Für sie und ihre Familien sind die sogenannten Familienentlastenden Dienste (FED) zum unverzichtbaren Bestandteil geworden, ihr Recht auf ein Leben "so normal wie möglich" zu realisieren. Dabei zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen Eltern aus den westlichen und den östlichen Bundesländern: Die Familien in den neuen Bundesländern haben größere Hemmungen, mobile Entlastungen in Anspruch zu nehmen, die vor allem die Mütter zeitweise in die Lage versetzen sollen, eigenen Bedürfnissen nachzukommen. Solche Hilfen werden nicht selten als "Luxus" empfunden.

Das ist eines der Ergebnisse des fünfjährigen FED-Forschungsprojekts am Fachbereich 1 Pädagogik (Institut EW 1: Sonderpädagogik, Prävention und Rehabilitation) unter der Leitung des Sonderpädagogen Prof. Dr. Walter Thimm. Das Vorhaben wurde gefördert durch das Bundesministerium für Familie und Senioren. Kooperationspartner war die Bundesvereinigung Lebenshilfe für geistig Behinderte e.V. Marburg. Die Lebenshilfe ist Träger der meisten FED in Deutschland. Die wichtigsten Ergebnisse des Begleitprojekts zum qualitativen und quantitativen Ausbau Familienentlastender Dienste wurden Anfang Dezember 1995 in Dresden auf einer vom Bundesministerium für Gesundheit finanzierten Veranstaltung vorgestellt. Die Tagung wurde von der Oldenburger FED-Forschungsgruppe ausgerichtet.

Familienentlastende Dienste entwickelten sich seit Mitte der 80er Jahre vor allem aus den Ortsvereinen der Lebenshilfe für geistig Behinderte als eine neue Form mobiler Hilfen. Sie sollten Familien mit behinderten Angehörigen Entlastung von vielfältigen alltäglichen, oft über Jahre bestehenden häuslichen Belastungen bieten. - Die Gesamtzahl der in Deutschland z. Zt. tätigen FED wird auf etwa 350 geschätzt. In ihnen sind über 300 pädagogische Fachkräfte als Leiterinnen bzw. Leiter hauptberuflich und etwa 4.000 Helferinnen und Helfer tätig. Die vielfältigen Hilfen erreichen inzwischen etwa 12.000 Familien. Zur Deckung des bestehenden Bedarfs müßten kurzfristig weitere 300 FED gegründet werden, schätzt Thimm.

Die Angebotspalette der FED wird weitgehend von den alltäglichen Überlastungen der Hauptbetreuungspersonen, und das sind in der Regel die Mütter, bestimmt. Die von den Helferinnen und Helfern erbrachten Hilfeleistungen erstrecken sich von stundenweiser Beaufsichtigung bis hin zu Entlastungsangeboten außer Haus durch betreute Wochenend- und Ferienaufenthalte des behinderten Angehörigen.

Die Familienentlastenden Dienste werden in aller Regel von behindertenpädagogischen Fachkräften in einem regulären Beschäftigungsverhältnis geleitet. Diese müßten sich immer wieder ins Bewußtsein rufen, so Thimm, daß beim FED nicht der Behinderte primär Adressat spezieller fachlicher Hilfen sei, sondern daß die eher unspezifische Alltagsentlastung der Hauptbetreuungsperson in der Familie im Zentrum der Hilfen stehe. Dieses sollte von fachlich nicht ausgebildeten Helferinnen und Helfern geleistet werden.

Der Kreis der Helferinnen und Helfer in den einzelnen FED ist außerordentlich heterogen. FED-Helferinnen und -Helfer sind Zivildienstleistende, Studentinnen und Studenten, Frauen, die einen Berufseinstieg suchen sowie freiwillige nebenberufliche Helferinnen. Es herrscht weitgehend Konsens darüber, daß auch in diesem Bereich neben- oder außerberuflich erbrachte helfende Tätigkeiten vergütet werden sollten. Kontrovers wird diskutiert, ob fachlich qualifizierten Kräften oder Laien der Vorzug gegeben werden sollte. Die Entstehungsgeschichte der FED verweist darauf, daß bei zunehmender Verberuflichung, Spezialisierung, Verrechtlichung und Bürokratisierung staatlich garantierter sozialer Dienstleistungen die Familienangehörigen aus dem Blick gerieten. Familienentlastende Dienste haben sich ja gerade deshalb herausgebildet, weil jenseits aller sozialpolitisch verankerten Hilfen, die von und in Institutionen durch Professionelle erbracht werden, ein erheblicher Entlastungsbedarf für eher unspezifische Alltagsprobleme bestehen bleibt.

Nach Auffassung von Thimm spricht vieles dafür, daß Hilfen zur Bewältigung dieser Probleme eher von Nichtfachleuten - also Laien - geleistet werden können und daß gerade die sozial engagierten Helferinnen in ihrem Laienstatus eine strategisch wichtige Position einnehmen könnten zwischen den betroffenen Familien und dem professionellen Hilfesystem (vertreten durch die FED-Leitung). Dazu benötigten die Helferinnen große Freiräume zur Ausgestaltung ihrer "Arbeit". Der Ausbalancierung des Dreiecksverhältnisses zwischen Familien, HelferInnen und den koordinierenden, begleitenden und anleitenden Fachkräften der FED-Leitung müsse bei der Weiterentwicklung der FED größere Aufmerksamkeit gewidmet werden.

Die Familienentlastenden Dienste seien heute wegen mangelnder sozialrechtlicher Absicherung in ihrer Existenz bedroht, so Prof. Thimm. Das Inkrafttreten der Pflegeversicherung habe auch hier, wie in anderen Bereichen der Behindertenhilfe, zu einer veränderten Ausgangslage geführt.

Karl Jaspers Vorlesungen zu Fragen der Zeit - ein Resümee von Rudolf zur Lippe

Sechs Jahre lang - von 1989 bis 1995 - sorgten die Karl Jaspers Vorlesungen zu Fragen der Zeit für Aufsehen in philosophisch interessierten Kreisen in Deutschland - und darüber hinaus. So hat die UNESCO die Jaspers-Vorlesungen zum deutschen Beitrag für die Weltdekade für kulturelle Entwicklung erklärt. Zu den Gästen der Jaspers-Vorlesungen gehörten Raimon Panikkar (Spanien), Lew Kopelew (Wuppertal), Carl Friedrich von Weizsäcker (Starnberg), Christine von Weizsäcker (Bonn), Ivan Illich (Mexiko), J.P.S. Uberoi (Indien), Hans Georg Gadamer (Heidelberg), Hellmut Becker (Berlin), Humberto Maturana (Chile), Marcel Tschiammalenga Ntumba (Zaire), Gutavo Esteva (Mexiko), Eveline Goodmann-Thau (Israel), Jeanne Hersch (Schweiz) und Vandana Shiva (Indien).

Freiheit ist nur möglich mit der Freiheit aller anderen." Diese Erkenntnis des Existentialphilosophen Karl Jaspers bildet den Angelpunkt der Genfer Rede, mit der er 1946 einen deutschen Beitrag zur Wiederbesinnung Europas nach den Kriegszerstörungen des Geistes zwischen den abendländischen Nachbarn wagte. Der Satz enthält nicht nur eine unerläßliche, aber nur zu wenig berücksichtigte Feststellung; er bindet vielmehr den Anspruch auf Freiheit an die Forderung gegen uns selbst, zugleich uns für die Freiheit des Anderen einzusetzen. Dies ist eine sehr einfache Einsicht. Ihr entsprechend zu leben, ist eine tiefe existentielle Bindung, von der her viele politische und ethische Konstruktionen und der moralische Druck, mit dem sie verkündet werden, überflüssig werden. Am Miteinander zwischen Menschen, zwischen Völkern, zwischen Kulturen haben wir teil von unserer eigenen Seite; aber zugleich ist die Sache des Anderen auch unsere eigene Sache.

Als ich 1989 mit der Stiftung Niedersachsen die Vorlesungen und Gespräche zu Fragen der Zeit begründete und mir vornahm, überhörte oder vergessene oder unterdrückte Stimmen aus anderen Weltgegenden in Europa zu Gehör zu bringen und in gemeinsamen Nachdenken deutlich werden zu lassen, wählte ich diesen Satz, "Freiheit ist nur möglich mit der Freiheit aller anderen", insbesondere um seiner aktuellen Bedeutung für die Beziehungen zwischen den Kulturen willen, die uns fern sind und vielleicht Wesentliches zu kaum lösbar erscheinenden Fragen der "einen Welt" zu denken geben, dieser "einen Welt", die unter dem Sog und den Zwängen dieses Weltmarktes das "Projekt der Moderne" trotz seinen unverzichtbaren Öffnungen zum Alptraum werden läßt.

Aufbruch zu einem Gemeinsamen Nachdenken

Zum Frühjahr 1995 hat die Stiftung unserer Arbeit ein Ende gesetzt. Immer wieder versichern diejenigen, die aus Deutschland, aus Europa, aus anderen Weltteilen zu den Kolloquien hier zusammenkommen, daß die Gäste der Vorlesungen und die Fragen von großer Wichtigkeit und eben auch die besondere Art der Gespräche von ungewöhnlicher Bedeutung sind. Ähnlich sind die Reaktionen derer, die aus der Ferne, nur über unsere Mitteilungen, daran teilhaben. Es ist ein Modell entstanden, sich mit "Fragen der Zeit" zu beschäftigen. Das muß nicht fortdauern, schon gar nicht unter der Gefahr, sich zur Institution zu verfestigen; aber es sollte fortwirken können - Aufmerksamkeit fördernd, Initiativen ansteckend, Gemüter ermutigend. So kann mein Rechenschaftsbericht mehr werden als nur der öffentliche Dank für die öffentlichen Gelder und die persönlichen Dienste an dieser Sache.

Was ist diese Sache? Nach 50 Jahren der Heilung von Kriegszerstörungen des Geistes im westlichen Europa und während nun dergleichen, so wenig vorbereiteten, Bemühungen mit dem östlichen zusammen, 50 Jahre nach dem Ende des eigentlichen Kolonialherrenverhältnisses zur übrigen Welt und während der Zusammenballung von Weltwirtschaftszonen unter der westlichen Entwicklungshegemonie ist es wohl nicht zu früh, zu einem gemeinsamen Nachdenken aufzubrechen. Die Fragen sind so drängend wie Ökonomie und Ökologie, Massenmedien und naturwissenschaftliche Forschung, und sie gehen ger Vorstellungen haben, welche Gestalt wir unserem Leben geben wollen. Philosophisch an der Arbeit der "Jaspers Vorlesungen zu Fragen der Zeit" ist dabei die Entscheidung, die Fragen ohne alle Rücksichten zu stellen, die politische und ökonomische und kulturelle Interessen auferlegen können, das heißt auch, den Fragen nachzugehen in die Schichten der Geschichte und des Bewußtseins, die überlagert und verdeckt sind durch den guten Willen und die bösen Absichten, durch längst unbewußt und scheinbar selbstverständlich gewordene Behauptungen und Unterstellungen, Hoffnungen und Befürchtungen.

Statt Talkshow ein wahrhafter Dialog

Öffentlichkeit und Auseinandersetzung des Wissenschaftsbetriebs werden zunehmend als Heerschau der Referate oder als Talkshow der Referenten in Szene gesetzt. Dabei werden unterschiedliche Aspekte einer Sache nach dem Pro-Kontra-Schema zu Gegensätzen gemacht, statt zu fragen, wie sie sich ergänzen; die Zeit wird so knapp bemessen, daß die Gesprächspartner zur Konkurrenz um Minuten und um Aufmerksamkeit gegeneinander getrieben werden, statt gelassen und nachdrücklich zu suchen, was zwischen ihren Positionen für neue Einsichten möglich werden. Das dürfte viel weniger Schadenfreude oder der Eitelkeit der Veranstalter zuzuschreiben sein als einer allgemeinen Vernachlässigung einiger einfacher Bedingungen für den Versuch, wahrhaft Dialog möglich zu machen.

Auch wenn diese Bedingungen nicht immer alle erfüllt werden müssen und können, so machen sie doch etwas Grundlegendes deutlich, das, so oder so, unabdingbar ist.

Statt im Niemandsland anonymer Instiihnen leben, so daß die anderen wirklich als Gäste dorthin kommen. "Der dritten Sache gut, sind wir einander nah" heißt es bei Brecht: Entsprechendes gilt schon für die Beziehungen zu einander und zu einem gastlichen Ort.

Die zweite Bedingung betrifft das Verhältnis zur Zeit. Jede Aufgabe, die wir uns stellen, besonders selbstverständlich die gemeinsamen, braucht ihre eigene Form. Nur weil diese Grundregel in den allermeisten Fällen nicht beachtet wird, erläutere ich einige Anwendungen. Wir bitten "Forscherinnen und Forscher, die eine Frage der Zeit zu internationaler Bedeutung herausgearbeitet haben", so steht es in der Satzung. Dann müssen geeignete Gelegenheiten geschaffen werden, daß sie ohne Verkürzungen und Streichungen uns ihre Sache vortragen können; die "großen Vorlesungen" für Studierende und Lehrende, für Stadt und Land sind zeitlich unbegrenzt; während der ein oder zwei Stunden können alle sich aufs Zuhören konzentrieren, weil der Abschluß sich nach der Sache und nicht nach der Uhr richtet. Wer einzelne Fragen mit den Vortragenden erörtern will, kann zu einem Rundgespräch am nächsten Tag mit ihnen, gut überlegt und vorbereitet, zusammentreffen. Von fernen Weltgegenden zu uns Kommende wollen und sollen hier an ihren Fragen Engagierte wiederfinden oder kennenlernen. Dafür sind Tage und Abende im internen Kreise erforderlich, der sich mehr um das Aufnehmen von den anderen als um das Verkünden der eigenen Erkenntnisse bemüht, also kaum Referate braucht und oft um den Hauptgast gruppiert ist. Gadamers Hermeneutik betont, daß es mehr noch als um Verstehen von etwas um die Verständigung zwischen uns geht, gerade auch um der Sache willen.

Wer tritt für das ein, was wir vertreten?

Alle, besonders Gastgeber und Leiter, müssen ständig dieses Verhältnis abwägen, gleichermaßen aus dem eigenen Wissen und Verständnis der Sache zu dienen und der Öffnung für Wissen und Verständnis der anderen. Damit sind wir bei dem wichtigsten Punkt. Je entschiedener wir uns mit einem Gegenstand beschäftigen wollen - gleich, ob es Gentechnologie oder Kunst und Kosmologie oder Landwirtschaft oder die ungeahnten Denkmöglichkeiten des Non-Dualismus sind - desto weniger dürfen wir darauf los reden, ohne uns zu fragen, wer eigentlich für das eintreten soll, was wir vertreten wollen. Kongresse können Übersicht über einen Kenntnisstand geben. Gespräche werden geführt, um ihn weiterzuführen, aber auch weil in ihnen sich eine der Zellen bildet, die miteinander sich als das Subjekt dieses Wissens und dieser Einsichten verstehen, die eben einen Ansatzpunkt schaffen, um Verantwortung tragen und beanspruchen zu können. Seit wir begreifen, daß zwischen einem Staat als erstarrtem Macht- und Veredelungsapparat und weitgehend gegen einander isolierten Individuen fehlt, was eigentlich das "Projekt Moderne" getragen hat, nämlich eine in einem öffentlichen Leben sich ständig neu bildende Gesellschaft mit Sinnvorstellungen und Zielen, mit Skrupeln und Argumenten, reden alle von der civil society. Ralf Dahrendorf verweist uns für alle Probleme auf sie. Aber es gibt sie nicht. Sie muß neu entstehen, indem Menschen miteinander nachdenken und zum Handeln bereit auf Fragen der Zeit zu antworten suchen. Wo die grandiosen Vorentscheidungen, durch Macht ältester und neuester Bauarten, nur Bewegungsraum für eigene Verantwortung noch lassen, da ist es diese Freiheit, in der unsere Gespräche ihre Verbindlichkeit erhalten.

Zweifellos müssen Unternehmen wie das unsere an den Rändern des beschleunigten Betriebes ihre Tätigkeit entfalten. Dazu ist zunächst eine Finanzierung ohne die Forderung nach unmittelbaren spektakulären Erfolgen notwendig; dieses Vertrauen hat die Stiftung Niedersachsen den "Jaspers Vorlesungen zu Fragen der Zeit" entgegengebracht. Deren Sitz an den Rand der Verkehrs- und Medienlandschaft zu legen, hat große Vorteile. Wer nur auftreten will, findet dafür keine Bühne vor. Die großen Zeitungen haben aber auch meist nur bedauert, dort nicht vertreten zu sein und deshalb nicht berichten zu können. Wirken aber wollen wir weithin; so entsteht hier ein Konflikt.

Wissenschaftlich arbeitenden Menschen sollte vielmehr die Gelegenheit eröffnet werden, am eigenen Elan außerinstitutioneller Initiativen sich anregen und herausfordern zu lassen. Wir sind mit unseren Forscherinnen und Forschern bei Regierungen, in Privathäusern, bei Stiftungen und Kulturzentren der deutschsprachigen Länder zu Gast gewesen. Das wäre eine richtige Ergänzung zu einem ständigen Ort gelassen intensiver Arbeit. Außerdem sollten viele durch kurze Berichte von den Gesprächen in einer Flugschrift beteiligt werden. Die fünf Jahre unserer Tätigkeit haben gereicht, um für beides die Beziehungen aufzubauen, nicht um sie noch auszunutzen.

Die Gäste aus anderen Kulturen

Aus der nur zu großen Zahl der "Fragen der Zeit", die es in klarem Bewußtsein anzuschauen gilt, mußte die Auswahl sich ebenso nach der Dringlichkeit der Sache richten wie nach den Arbeitsbeziehungen zu den Menschen, die sie untersuchen und verbreiten. Im ersten Semester legten wir einige Linien an, die sich durch die Jahre hin fortsetzen sollten. Der spanisch-indische Religionsphilosoph Raimon Panikkar untersuchte mit uns das Verhältnis der Mythen von einst zu der Wiederkehr mythenähnlicher Vorstellungen in den scheinbar so rationalen Strukturen der Gegenwart, um die nach wie vor unersetzliche Erklärungskraft epischer Zusammenhänge abzugrenzen gegen alte und neue Mystifikationen. Lew Kopelew zeigte uns, daß die Verwandlung von Völkerfeindschaften in Freundschaften nur greifbar wird, wenn wir bereit sind, uns Entwicklungen aus der Tiefe der Geschichte bewußt zu machen, also die Aktualitätenpolitologie des gewöhnlichen Journalismus und der Politikerreden zu überwinden. Wir haben diese Linie übertragen auf die Frage, was aus Widerstand und Dissidententum unter den Bedingungen der Normalität des republikanischen Alltags werden kann. Christine von Weizsäcker hat mit ihrem "Entwurf für eine Landwirtschaftsphilosophie" eine Reihe von Kolloquien und auch von regionalen Landwirtetreffen begründet, in denen es um eine neue Beziehung der Menschen zur Natur und zu den eigenen Vermögen unter den Strategien der industrialisierten Gesellschaften geht. Dieser Versuch war um so notwendiger, als die gleichen Fragen bei der Kritik der Entwicklungspolitik mit der "grünen Revolution" wiederkehrten.

Ivan Illich hat als erster ein eigenes Semester bestimmt mit seinem Thema einer wohltätigen "Askese des Blicks". Bis in die mittelalterliche Frühgeschichte des Projekts der Moderne hat er die Ansätze zu Massenmedien, Determinierung des Denkens durch graphische Simplifikationen und zu unreflektierten Visualsierungen zurückverfolgt, um zu untersuchen, wie wir gegenwärtig unsere Wahrnehmungsvermögen von der Okkupation durch fiktive Realitäten befreien können. J.P.S. Uberoi lehrte uns, den Unterstrom von Weltdeutungen ernst zu nehmen, die von Dante über Goethe bis zur Gegenwart "the other mind of Europe" bilden. Dabei lernten wir seine indische Denkweise des Non-Dualismus als die wirkliche Alternative kennen zu der falschen europäischen von Dualismus oder Monismus - das heißt, wieder in Beziehungsfeldern zwischen notwendigen Polen zu denken. Und wir haben alle ihn eine ungewöhnliche eigene Höflichkeit durchbrechen sehen, wenn immer wieder westliche Sehnsucht nach einem anderen Leben und Denken, wunschverloren und begehrlich, Nahrung in Indien verlangen. Die Antwort war sehr nüchtern und klar. Wir sollen das Andere nicht da in der Welt suchen, wo wir seit Jahrhunderten seine Ausrottung betreiben.

Anregung über eigene neue Wege nachzudenken

Marcel Tschiammalenga Ntumba kam nur mit Mühe zu uns aus Zaire; verfolgt von der Diktatur Mobutus, den die Regierungen der Vereinigten Staaten, Deutschlands, Frankreichs stützen. Er sprach zu uns von einem "Primat des Wir", der Zusammengehörigkeit der Menschen wie aller anderen Wesen zu der Großfamilie einer göttlichen Schöpfung, deren Quellen in die Geschichte der Bantu-Vergangenheit gehören und für die er, als Philosoph, als christlicher Priester und als afrikanischer Theologe, eine Zukunft forciert, um derentwillen wir noch lange viel ihm zuhören müßten. Viel kämpferischer durch völlige Zurückhaltung gegenüber allem guten wie bösen Willen des Westens, inzwischen müssen wir des Nordens sagen, machten uns Gustavo Esteva und Vandana Shiva klar, daß es, etwa in Mexiko und in Indien, ein Denken und Handeln von Gemeinschaften gibt, die sich gegen die Vereinnahmungen der Entwicklungspolitik über Weltmarkt und Anpassungshilfe zur Wehr setzen. Die Erfahrungen mit solchen Versuchen zu einem richtigeren Leben neben und unter dem falschen können nur als Erzählung zu uns dringen und haben an uns keine andere Erwartung, als daß wir uns anregen und ermutigen lassen, selber für uns über eigene neue Wege nachzudenken. Selten wurde so mittelbar deutlich, was oft ausdrücklich als Schlüssel zu allen Veränderungen in der, eben so oder so vom Westen, vom Norden bestimmten, Welt zu erkennen war: Ohne folgenreichen Sinneswandel bei uns werden die anderen nie frei werden von den Ansprüchen und Drohungen, die von unserem Way of life and Business ausgehen. Ich hoffe, daß unsere Gespräche mit Janis Roze (ICIS New York) und Jacob von Uexküll (Alternativer Nobelpreis) u.v.a., wie der Gruppe Ecoropa, zu Schritten über unser Programm hinaus führen.

Wie vieles wäre eingehender Schilderung würdig. Oft gerade auch wegen der eindrucksvollen Reaktionen auf ungewohnte Sicht: Die Wohltaten einer schuldfernen und freudigen Bibelexegese durch die sanft feministische Schriftgelehrte Eveline Goodman-Thau. Die Einführungen in so viel gemeinsames Unglück und Glück auf den Wegen von Christentum und Islam durch den Staatsdienst der Religionen gegen einander und die Bereicherungen der Kulturen durch einander. Die Entdeckung der Statthalterschaft der Kunst für die uns fehlende Kosmologie unter der Führung von H. G. Gadamer. Wilhelm von Humboldts Hermeneutik als Schule der gemeinsamen Bemühungen der Kulturen aus ihren unvergleichlichen Sprachen und Gesten um den Sinn der Welt, in denen wir am Anderen um des Anderen und des gemeinsamen Reichtums willen ein eigenes Interesse finden. Die buddhistischen Lehren von ich und Welt, die durch Vielschichtigkeit so viele der westlichen Widersprüche vermeiden helfen können, gerade wenn sie von einem amerikanischen Zen-Abt gelebt und gelehrt werden.

Jeanne Hersch hat uns durch die exakten Schritte abendländischer Philosophie geführt, weil sie fähig ist, deren Grenzen sowohl aufzuzeigen wie anzuerkennen, was in solcher Klarheit nicht zugänglich ist - atemberaubend und großartig. Ähnlich im Ziel, Bescheidung durch äußerste Konsequenz gewohnter Denkformen zu gewinnen, und ganz anders aus den Anschauungen einer Biologie um des Lebens willen die Erkenntnistheorie des Chilenen Humberto Maturana. Die Spannung zwischen dem Werben für eine biologia de amor, die Einsicht in das uns alle tragende und belebende Miteinander der co-existence, der co-history aller Wesen, und dem Reduktionismus konventioneller Terminologie ist geeignet, zurückzuverweisen auf gleichgerichtete, "zu früh" gekommene Lehren wie die Gestaltkreislehre von Victor v. Weizsäcker etwa.

Ein erwachsenes Bewußtsein bedarf so vieler Aufmerksamkeiten, so vielen Wissens, so vieler Öffnungen. Manche unserer Gäste und Zuhörer versuchen sich vorzustellen, was möglich würde, wenn alle, denen wir nacheinander gefolgt sind, miteinander die Arbeit fortsetzen könnten. Ich habe jedenfalls gelernt, Fragen und Gespräche mit möglichst vielen von ihren Augen zu sehen. Eine interessante und nützliche Übung. Sobald wir die Reihe der Vorlesungen publiziert haben werden, können viele ihr nacheifern.*

Das westliche Selbstbewußtsein ist in Schuldgefühle gebaut

Die Versuche zu Gesprächen aus der Gegenwart anderer Kulturen haben sehr bemerkenswerte Aufschlüsse über die Situation der Europäer und ihr Verhältnis zu sich selbst gegeben; nur zu oft hat die plötzlich zutage tretende Dynamik solch ungeahnter oder verschwiegener Brüche die eigentlichen Themen verdrängt. Viel zu wenig sind wir fähig, Deformationen und Maskierungen in der übrigen Welt uns gegenüber als die subtilen, aber gewaltsamen Rückwirkungen westlicher Weltherrschaft zu erkennen. Was 500 Jahre Gewalt und eine fortgesetzte Anmaßung, alles von den abendländischen Normen her zu beurteilen, die wir ständig selber mißachten, an Widerstand, Anpassung und Zurückhaltung provoziert haben, kann nur aufgelöst werden, wenn wir selber uns ohne alle Kriegsbemalung anzuschauen beginnen. In genau solchen Augenblicken wird spürbar, wie tief das westliche Selbstbewußtsein, unter der martialischen oder mildtätigen Maske, in Schuldgefühle gebannt ist, die eine lähmende Grundstimmung erzeugen. Weder sind die nur zu offensichtlichen Gründe im Bewußtsein zugelassen, so daß sie bearbeitet und in vernünftige Haltungen umgesetzt werden könnten, noch scheint es überhaupt für sie hinreichende Gründe zu geben. Vielmehr sind die Menschen und Völker, die den anderen ihren Fortschritt vorhalten, den sie auf Kosten der anderen für sich durchgesetzt haben, unfähig, sich dieses Lebens zu freuen, wie jene es immer noch, unter bescheidenen oder bedrückenden Umständen, vielfach vermögen. Entweder haben unsere Religionen und die sie kritisierende Aufklärung uns ein schlechtes Gewissen verordnet, wo wir dankbar genießen sollten und dürften, oder sie haben zumindest versäumt, uns frei zu machen dafür. Die Folge ist eine Unfähigkeit zur Freude, die uns immerfort in eine unerträgliche moralische Distanz zu uns selbst, zu den anderen und zu der übrigen Schöpfung versetzt. Diese spezifische Unfähigkeit zu dankbarer Freude ist womöglich das, wodurch wir am meisten Unrecht tun und am meisten Unheil anrichten, wenn wir die Folgen für unsere Begegnungen mit der Welt ernst nehmen.

Noch ein kritischer Versuch zu einem "engagierten Pluralismus": Verschiedene Entwürfe und Erprobungen, auf die Lebensfragen der Generationen, der Geschlechter, der ökonomischen Modelle praktische Antworten zu geben, sind die einzige Aussicht heute, neue Wege aus verfahrenen Situationen der Geschichte zu finden, und diese Möglichkeit zu eröffnen ist vielleicht die größte Stärke unserer demokratischen Verfassung. Sie kann aber nur dann weiterführen, wenn wir sie aktiv ausnutzen, wenn wir die Fragen als gemeinsame öffentlich anerkennen und ein vergleichendes Interesse an den Wegen der einen wie der anderen entwickeln.

Eine der typischen Rollen, hinter denen dieser Komplex sich versteckt, ist die des Experten, insofern die Experten sich mit Fragen des Lebens entweder gar nicht beschäftigen, weil das nicht zur Definition ihrer Disziplin gehört, oder nur um ihre Kompetenz für Beurteilungen zu demonstrieren, aus denen für ihre Lebensweise nichts folgt. Es dürfte nicht nur zufällig sein, daß sich selbst unter den Fachphilosophen gar nicht so viele an den Fragen der Zeit engagieren, wo alle Sicherheit in sich geschlossener Denkgebäude um des Lebens willen aufs Spiel gesetzt werden muß. Aber gewiß müßten auch Ansätze wie der unsere viel mehr Zeit haben, sich herumzusprechen, ältere Vorbilder in Erinnerung zu bringen, neue Nachahmer zu finden. Es dauert wohl auch seine Zeit, bis die Jüngeren, an die Stichworte der zugleich über- und unterinformierten Gesellschaft gewöhnt, aufhorchen und ihren Ohren trauen können, wenn Menschen ihnen etwas zu sagen haben, von denen das Fernsehen noch keine Schlagzeilen gebracht hat. Das betrifft gerade auch die große Zahl der heute Studierenden, denen wir ja zu verstehen geben, daß Bereitschaft gegenüber offenen Problemen vor allem die Karriere schädigt und der Pflicht zum Funktionieren widerspricht. Umso eindrucksvoller verstehen andere junge Leute, sehr wohl auf dem Hintergrund der überkommenen Theorien, heute den Fragen unverstellt zu begegnen.

Freiheit der Anderen nur mit unserer eigenen Befreiung

Immer wieder bestätigt sich, daß wir westlichen Menschen, Wissenschaftler, Politiker, Manager allen voran, je mehr Wissen wir haben, desto weniger über uns selbst wissen; die Psychologie hat zwar viel Wissen über das einzelne Ich produziert, aber die tiefen Überlagerungen der Geschichte unserer Denkformen und Gewohnheiten und Handlungsmuster bleiben unbewußt. Was uns am meisten zu fehlen scheint, ist die Fähigkeit, sich gleichzeitig verschiedener Schichten einer Situation, verschiedener Ziele, verschiedener Richtungen einer Überlegung bewußt zu sein, die doch alle einen Anspruch an uns haben.

Wie ließe diese Übung sich entfalten zu reinem Bewußtsein für die Widersprüche und die Konvergenzen, die unsere übliche Fixierung auf das eine Ziel uns verdeckt? In den Gesprächen zeigt sich immer wieder, daß die freundschaftliche Auseinandersetzung die Sache von vielen Seiten bewußt werden läßt, weil im Bemühen um Verständigung alle etwas vom Verstehen auch der anderen einzubeziehen vermögen. Dieser Vorgang und die Beobachtung, wie produktiv das wechselseitige Aufnehmen ist, dürfte am meisten das sein, was so viele geradezu beglückt erklären läßt, solche Begegnungen seien ebenso notwendig wie leider sehr selten möglich. Die allgemeine Methode von Tagungen und Kongressen ist eben nur daran orientiert, welche Ergebnisse neuer Teil des abstrakten Informationsstandes der Fachöffentlichkeit werden. Neu gewachsene Beziehungen zu der Sache und zu einander, zumal in der Phase des ersten Aufhorchens und der Anregungen und Verunsicherungen, werden nicht gezählt. Das liegt wesentlich daran, daß wir zeitlos geltendes Wissen suchen und darüber das Wachsen und Zusammenwachsen wirklicher Fähigkeiten von wirklichen Menschen mißachten; sonst würde auch weniger Energie auf Selbstdarstellung und "Profilierung" verwendet werden.

Freiheit, erkennen wir, der Anderen ist eben auch nur möglich mit unserer eigenen Befreiung von all solchen selbst gemachten Blockaden. Die Beiträge unserer Gäste dazu, während über fünf Jahren, sind eindrucksvoll und ermutigend genug, um zu vielseitiger Aufnahme und Fortsetzung aufzufordern.


* In der "Autobahn-Universität" des Auer-Verlages, Heidelberg, werden demnächst die Großen Vorlesungen als Kassetten herausgebracht. Gedruckt erscheinen sie, mit Zusammenfassungen einiger Gespräche und Kommentare im Akademie Verlag, Berlin.


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