Inhalt Einblicke Nr. 22

Robin Hood - vom Wegelagerer zum Nationalhelden

von Kevin Carpenter

Die im Mittelalter entstandene englische Legende von Robin Hood hat in jeder neuen Generation zum Teil drastische Veränderungen erfahren. Vor allem die Figur des Robin Hood wurde mehrfach umgedichtet. Aus dem gefährlichen Wegelagerer der ältesten Balladen wurde ein enterbter Adeliger, danach ein gegen die Normannen kämpfender angelsächsischer Patriot und in der Neuzeit ein Vorkämpfer für gesellschaftliche Freiheit und Gerechtigkeit. Die zahlreichen Robin Hood-Bücher und -Filme der letzten Jahre belegen, daß die Legende nichts von ihrer weltweiten Popularität und nichts von ihrem enormen Darstellungs- und Deutungspotential eingebüßt hat. Das zeigt auch eine Ausstellung über Robin Hood, die vom Autor dieses Berichtes konzipiert und nach ihrer Präsentation in Oldenburg (November/Dezember 1995) und Berlin auch in England, Holland, der Schweiz, Dänemark und Polen gezeigt wird.

Dokumentarisch konnte bis heute nicht nachgewiesen werden, daß Robin Hood als historische Figur wirklich existierte. Genaueres ist jedoch über die Frühform der Legende festgehalten. Spätestens 1261/62 war sie in England verbreitet, die ältesten überlieferten Quellentexte - Balladen und Balladenfragmente - stammen jedoch erst aus der Zeit zwischen 1450-1500. In diesen spätmittelalterlichen Balladen trat Robin Hood als kühner Räuber auf, der ständig in blutige Auseinandersetzungen mit den mächtigen habgierigen Äbten und Bischöfen verwickelt war. Zu diesem Zeitpunkt wurde er keineswegs als Beschützer der Armen und Unterdrückten dargestellt (auf diese Rolle mußte er einige Jahrhunderte warten), auch nicht als enterbter Edelmann (eine Erfindung des Renaissancedramatikers Anthony Munday). Die Orte der Handlung waren ursprünglich nicht Sherwood und Nottingham, sondern Barnsdale und Umgebung in der Grafschaft Yorkshire, sowie die schwer zu überwachende Heer- und Handelsstraße, die durch dieses damals als extrem gefährlich geltende Gebiet nach Nordengland und Schottland führte. Der Sheriff von Nottingham kam später hinzu, möglicherweise durch die Ver schmelzung zweier Balladenzyklen. Einige von Robins Kumpanen wie Little John, Will Scarlet und der Müllerssohn Much waren von Anfang an Teil der Legende, es fehlten jedoch Robins Gefährtin Marian, die der mittelalterlichen französischen Pastoraldichtung entstammt, sowie der lebenslustige Bruder Tuck. Diese beiden Figuren traten zunächst als Tänzer in den englischen Maispielen auf, bevor sie von der Legende absorbiert wurden. So formten sich langsam die Konturen der Robin Hood-Legende, die Jahrhunderte lang von Balladensängern zur Unterhaltung breiter Bevölkerungsschichten vorgetragen wurde.

Von Balladen und Balladensammlern

Der wichtigste Quellentext ist sicherlich der Gest of Robyn Hood (etwa: Bericht über die Taten des Robin Hood), ein Versepos in 456 Strophen zu jeweils 4 Zeilen. Drei gedruckte Fassungen (um 1510-15, 1515 und 1560) sind in der Universitätsbibliothek Cambridge sowie in den Nationalbibliotheken in London und Edinburgh erhalten. Ferner sind einige Balladen aus dem späten Mittelalter überliefert, teilweise in Fragmenten. Robin Hood and the Monk (Robin Hood und der Mönch) in der Manuskriptform von ca. 1450 ist leider unvollständig. Das älteste vollständig erhaltene Balladenmanuskript aus dem späten Mittelalter, Robin Hood and the Potter (Robin Hood und der Töpfer), ca. 1500 niedergeschrieben, befindet sich ebenfalls in der Universitätsbibliothek in Cambridge. Bis etwa 1700 wurden neue Abenteuer hinzugedichtet, bis der Gesamtkorpus schließlich 40 Balladentitel umfaßte. Vor genau zweihundert Jahren trug der Folkloreforscher Joseph Ritson alle ihm bekannten Balladen und Balladenfragmente zusammen und veröffentlichte sie in einem großartigen Werk, von dem die Universitätsbibliothek Oldenburg ein Exemplar der Erstausgabe besitzt. Danach gab es weitere Versuche, die alten Balladen in möglichst korrekter und vollständiger Form wiederzugeben. Erwähnenswert ist vor allem die achtbändige Sammlung der englischen und schottischen Volksballaden (1882-98), zusammengestellt von dem Harvard-Folkloristen Francis J. Child, die immer noch als die Standardausgabe gilt. Zwar genügt Ritsons Anthologie von 1795 heutigen editorischen Ansprüchen nicht mehr, gleichwohl prägte sie, zusammen mit seiner Le-bensgeschichte von Robin Hood, den er zum Sozialrebellen stilisierte, das Bild für mehrere Generationen. Am nachdrücklichsten beeinflußte Ritson die Darstellung des Geächteten in einem weltweit beliebten, äußerst einflußreichen und mehrfach verfilmten Roman von Walter Scott.

Die Neuentdeckung der Legende im 19. Jahrhundert

In seinem Roman Ivanhoe (datiert 1820, aber bereits 1819 veröffentlicht) schuf Scott für Robin Hood, eigentlich eine Randfigur im Werk, eine neue Rolle. Zur Regierungszeit des Königs Richard Löwenherz wird er nun zum Anführer der besiegten Angelsachsen, der "echten" Engländer, die sich gegen die normannischen Eindringlinge zur Wehr setzen. Jede historische Grundlage für ein solches militärisch-politisches Szenario am Ende des 12. bzw. Anfang des 13. Jahrhunderts fehlt dabei. Wie die adlige Herkunft Robins gehört jedoch seine Rolle als patriotischer Widerstandskämpfer zu den langlebigsten Merkmalen der Legende. Scott war nicht der einzige Schriftsteller der Zeit, der sich dem Mittelalter zuwandte. Die romantischen Dichter John Keats und J.R. Reynolds tauschten in ihrem Briefwechsel Robin Hood-Gedichte aus, in denen sie ihre Sehnsucht nach einem freien Leben in einem nostalgisch verklärten Mittelalter zum Ausdruck brachten. Auch Künstler fanden Inspiration in neu entdeckten mittelalterlichen Stoffen. Der anglo-irische Maler Daniel Maclise griff eine Szene aus Ivanhoe auf - das Festmahl mit einem unbekannten Kreuzritter (König Richard) in Sherwood - und betonte in seinem Ölgemälde von 1839 nicht nur die Loyalität der Gesetzlosen ihrem Land und ihrem König gegenüber, sondern auch die männliche Kameraderie sowie die Naturverbundenheit der Geächteten im tiefsten mittelalterlichen englischen Urwald. Dichter und Romanschriftsteller hatten am Anfang des 19. Jahrhunderts einen nachhaltigen Einfluß auf die weite re Entwicklung der Legende, insbesondere auf die Stilisierung Robins zum Nationalhelden. So ist ist es sicherlich kein Zufall, daß die ersten Robin Hood-Kinderbücher aus dieser Zeit stammen.

Der "edle Räuber" im Kinderzimmer

Vereinzelte Prosafassungen der Legende für Kinder sind wohl noch vor der Wende zum 19. Jahrhundert erschienen; sie sind zwar in Bibliographien verzeichnet, müssen aber mit ziemlicher Sicherheit als verschollen gelten. Die Flut kam aber erst, nachdem die Romantik das Volkstümliche salonfähig gemacht und die Volkskultur für erbaulich erklärt hatte. Danach wurde Robin Hood zum Helden ungezählter Bilderbücher und Stories für Kinder bürgerlicher Familien. Auch die populäre Jugendliteratur des 19. Jahrhunderts, jene bei Arbeiterkindern so beliebten, billigen und schlecht gedruckten Zeitschriften, Heftromane und Heftchenreihen, verbreiteten die span-nungsreichen Abenteuer des Geächteten von Sherwood. Als die bekannteste dieser Neufassungen muß der Roman The Merry Adventures of Robin Hood (1883) des Amerikaners Howard Pyle hervorgehoben werden, ein Buch, das ein erstaunlich breites weltweites Publikum erreichte und heute noch in deutscher Sprache in mehreren Ausgaben erhältlich ist. Im großen und ganzen boten diese Kin derbücher ein weitgehend einheitliches Bild des englischen Mittelalters an, eines "Merry England", in dem Robin Hood nach seinem glorreichen Sieg über die Eroberer das feudale Glück wiederherstellte. Die These, daß das Mittelalter in vielen Neufassungen der Legende - und nicht nur in Kinderbüchern - als Projektionsfläche für Ängste, Spannungen und Träume der Gegenwart dient, kann anhand vieler Texte und Filme belegt werden. Eine bekannte amerikanische Filmfassung soll hier exemplarisch behandelt werden.

Von Sherwood nach Hollywood

Im Jahre 1938 wurde der Robin Hood-Film des 20. Jahrhunderts gedreht: The Adventures of Robin Hood (deutscher Kinotitel: Robin Hood - König der Vagabunden), mit Errol Flynn in der Hauptrolle. Der effektive Kontrast zwischen Fröhlichkeit, Geselligkeit und Menschlichkeit im farbenprächtigen Sherwood (gedreht wurde der Film in Chico, Kalifornien) auf der einer Seite, und Habgier, Menschenhaß und Tyrannei im expressionistisch angehauchten düsteren Schloß auf der anderen Seite kann man nicht nur auf einen Regiewechsel zurückführen - nach Abschluß der Außenaufnahmen wurde William Keighley von Michael Curtiz abgelöst -, sondern eher auf eine durchaus intendierte Bedeutungsebene des Films. Diese Filmfassung griff die seit Ivanhoe tradierte Feindseligkeit zwischen Normannen and Angelsachsen auf, fügte aber einen zeitgenössischen politischen Akzent hinzu, denn die brutalen normannischen Offiziere und Soldaten tragen eindeutig faschistische Züge, wobei Robin Hood selbst zum listenreichen und entschlossenen Widerstandskämpfer gegen ein menschenverachtendes (braunes) Regime wird. Der Film kommentierte aber nicht nur europäische Verhältnisse Ende der 30er Jahre, sondern enthielt auch eine spezifisch amerikanische Dimension. Mit seinen politically correct humanitären Impulsen wirkt Flynns Robin Hood wie ein Vorkämpfer und Wegbereiter für den New Deal, das wirtschaftliche und soziale Reformprogramm, das Präsident Roosevelt - enger Freund des Filmproduzenten Jack Warner durchzusetzen ver suchte. Der Keighley/Curtiz-Film kolportierte also ein seit Walter Scott traditionelles Bild des Mittelalters, das gleichzeitig einen starken Bezug zur damaligen nationalen und internationalen politischen Situation aufweist.

Robin Hood und die Forschung

Die Forschungslage läßt sich rasch umreißen, denn neben zahlreichen Aufsätzen zu der Thematik gibt es lediglich drei bedeutende Monographien zur Robin Hood-Legende. Rymes of Robyn Hood, eine kritische Ausgabe des wichtigsten Textes, des Gest, sowie einiger der Balladen und Texte aus der späteren Tradition legten die Historiker Barrie Dobson und John Taylor 1976 vor (Neuauflage 1989). Nach zwanzigjähriger Forschungsarbeit veröffentlichte 1982 James C. Holt sein Buch Robin Hood (Neuauflage 1989; deutsche Übersetzung 1991), in dem der Historiker einen ganzen Köcher voll Robin Hood-Kandidaten untersuchte und darüber hinaus Hinweise auf den Legendenursprung im Norden Englands in der Mitte des 13. Jahrhunderts zusammentrug. 1994 lieferte der Literaturwissenschaftler Stephen Knight mit seinem Robin Hood eine erste, fundierte Übersicht über die Gesamtentwicklung der Legende aus soziokultureller Sicht. Das schillernde Darstellungs- und Interpretationspotential der Legende lädt ein zu weiteren wissenschaftlichen Untersuchungen, beispielsweise zu folgenden Themen: die Verbreitung und Entwicklung der Legende im Vergleich zu anderen mittelalterlichen Legenden; die Darstellung des Rebellen in der Kinder- und Jugendliteratur; populäre Kultur und anders gewichtete Versionen der Rebellion; die Veredelung des Geächteten analog zum Fall anderer "edler Räuber" (wie z.B. des Schinderhannes); Fragen nach der europaweiten Faszination des Mittelalters und die internationale Beliebtheit der Robin Hood-Legende in Buch und Film; die Funktion der positiven Assoziationen der Robin Hood-Symbolik, wie sie sich in der Werbung (z.B. "Maggi-Suppe"), Karikatur, Spielzeugproduktion usw. findet. Die Liste möglicher Forschungsthemen läßt sich beliebig verlängern.

Das Oldenburger Robin Hood-Projekt

Zur Zeit wird an der Universität Oldenburg die Ausstellung Robin Hood - Die vielen Gesichter des edlen Räubers als gemeinsames Vorhaben des Faches Anglistik (Fachbereich Literatur- und Sprachwissenschaften) und der Universitätsbibliothek vorbereitet. In rund 400 Exponaten soll die Entwicklung der Legende vom Mittelalter bis heute dokumentiert werden. Nach Eröffnung in Oldenburg im November 1995 wird die Ausstellung in fünf weiteren europäischen Ländern zu sehen sein: Dänemark (Aarhus), Holland (Groningen), England (York), Polen (Torun) sowie in der Schweiz (Zürich). Beiträge für den umfangreichen, vom British Council bezuschußten Katalog liefern Historiker, Literaturwissenschaftler, Medienexperten, Pädagogen aus Großbritannien (Cambridge, Car-diff, Lancaster und Leeds), den USA (Purdue) und Deutschland (Erlangen-Nürnberg, ferner sechs Kolleginnen und Kollegen aus Oldenburg). Zwei preisgekrönte Jugendschriftsteller, die in jüngster Zeit Robin Hood-Bücher verfaßt haben, berichten über ihre Umbildung der Legende: Robin McKinley (USA) und Tilman Röhrig (Deutschland).

Damit ist die Thematik jedoch keineswegs erschöpft, denn die Literatur- und Kulturwissenschaften haben erst mit der Arbeit begonnen, die seit mehr als sieben Jahrhunderten anhaltende Popularität der Robin Hood-Legende und deren weltweite Verbreitung adäquat zu erforschen und zu erklären.


Der Autor

Dr. Kevin Carpenter (47) ist als Lektor im Fach Anglistik an der Universität tätig. Er studierte Anglistik, Germanistik und vergleichende Literaturwissenschaft in Manchester und Kiel, promovierte 1983 in Oldenburg über den englischen Jugendroman des 19. Jahrhunderts. Die Ausstellung Robin Hood, die er momentan in Zusammenarbeit mit Bianca Jung vorbereitet, folgt seinen beiden bisherigen Ausstellungen über englische Jugendzeitschriften und Comics (Wanderausstellung 1981-84) und historische Abenteuerliteratur (Wanderausstellung 1984-86).


Leserbrief an presse@admin.uni-oldenburg.de
7.11.1995