Antonius Holtmann:

Kein Meisterstück oder: Wie "Liwwät Böke" mit fremden Federn geschmückt wurde. Eine 2010 aufgefrischte und 2012 und 2019 umfangreich ergänzte Rezension.

Liwwät Böke. 1807-1882: Pioneer. The story of an immigrant pioneer woman and her husband who settled in western Ohio as told in her own writings and drawings. Compiled and edited by Luke B. Knapke. Minster, OH: The Minster Historical Society 1987



Einleitung

Taufregister zu Liwwät Knapke im Kirchenbuch Nr. 5. Bl. 131 von St. Bonifatius, Neuenkirchen i. O. (1807).
Church Register / Number 5, 131, St. Bonifatius, Neuenkirchen (Oldenburg): Liwwät Knapke (1807).

Diese 1987 erschienenen Schriften und Zeichnungen einer deutschen Pionierin („pioneer woman“) aus dem Oldenburger Münsterland sind schon faszinierend. Raymond E. Crist vom Department of Geography der University of Florida in Gainesville hat jeder privaten oder öffentlichen „library of Americana“ empfohlen, sich ein Exemplar dieses „thrilling masterpiece“ zuzulegen, das uns eine „creative artist, perceptive writer, a poet in Low and High German, a gifted historian, pioneer, student, wife, mother, grandmother, devoted home maker, midwife, linguist, community spokesperson, neighbor, friend of bishops, gardener, and citizen“ nahebringe.(2) Im Palatine Immigrant schrieb Eleanor Brucker über ein „rare and unusual work“, das „fascinating to read“ sei.(3) Liwwät Böke sei „Ohio’s first liberated woman“ gewesen, hieß es im Oktober 1995 im Ohio Magazine in einer Würdigung von John Baskin. Baskin meinte sogar: „She is more authentic than most of us alive“.(4)

Fasziniert war ich auch, als ich im Sommer 1986 in Minster/OH einige Texte und Bilder einsehen und im Frühjahr 1987 Fotokopien der mehr als 1000 Seiten nach Oldenburg mitnehmen konnte, großzügig und hilfsbereit zur Verfügung gestellt vom Herausgeber Luke B. Knapke. Im Herbst 1987 traf das englischsprachige Buch ein. Ich habe es sofort in einer meiner Lehrveranstaltungen benutzt. Eine plattdeutsch schreibende emanzipierte katholische Frau in den Urwäldern von Ohio um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts war zu verlockend, als dass ich es, kaum beachtet, in den Bücherschrank gestellt hätte. Und diese Verlockungen im Kontext des vertrauenserweckenden kleinstädtischen und familiären katholischen Milieus von Minster (Ohio) und Luke Knapkes Familie haben Zweifel erst gar nicht aufkommen lassen. Im Gegenteil: Das Ungewöhnliche bestätigte nur immer wieder die Außerordentlichkeit der Liwwät Böke. Ein Plattdeutsch-Experte an der Universität Groningen, dem ich einige Manuskriptproben mit Aussagen zur plattdeutschen Sprache (Vgl. unten „Tensions with Brunner“.) zur Beurteilung geschickt hatte, nannte die Texte „erstaunlich“, und ein Experte für nordwestdeutsche Kulturgeschichte vom Museumsdorf in Cloppenburg bemerkte, es könne sein, dass Liwwät Böke die „Pictures from my Childhood at Home in Nellinghof and Neuenkirchen“ irgendwo abgezeichnet habe. Man vertraute mir und Luke B. Knapke und der Minster Historical Society.

Marron F. Fort, Amerikaner aus Ohio und Mitarbeiter der Universitätsbibliothek in Oldenburg, hat zuerst und entschieden der Minster Historical Society gegenüber auf der Grundlage der englischsprachigen Ausgabe, ohne die Manuskripte zu kennen, Bedenken geäußert (Dezember 1987)     und aufgrund einiger Indizien gefolgert, zumindest große Teile des Buches seien gefälscht: Er hat es nicht beim Verdacht belassen.

Mehr als einen Verdacht ließen diese Indizien aber nicht zu. Anglizismen enthalte der Text: Er war z.T. ja auch in den USA geschrieben. Neuenkirchen sei hochdeutsch geschrieben im plattdeutschen Text, da wäre eine Plattdeutsche doch in ihrer Sprache geblieben und hätte „Nienkercken“ geschrieben: Das ist plausibel, aber nicht zwingend, zumal Namen und Ortsnamen gern mit lateinischen Buchstaben geschrieben wurden. Wilhelmshaven habe es 1834/35 noch gar nicht gegeben, sei aber auf der Karte eingezeichnet, so auch West-Virginia, das erst im Bürgerkrieg entstanden sei: Beides könnte Liwwät Böke nachträglich eingetragen haben. Und der Anmerkung von Marron F. Ford, „German Catholics did not discuss sex in the nineteenth century and here in Oldenburg, they still don’t“ (Vgl. unten „Discussion and Information“.), kann leicht entgegengehalten werden, dass es immer Menschen gibt, die ihrer Zeit voraus sind.

So ist es schon verständlich, dass die Minster Historical Society am 23. Januar 1988 feststellte: „Die Fragen, Behauptungen, Andeutungen  und (stillschweigenden) Folgerungen, die zur Diskussion stehen, sind von den Vorstandsmitgliedern im Detail besprochen worden. Sie sind alle zur vollen Zufriedenheit des Vorstandes zurückgewiesen und erklärt worden. Wir müssen (darum) die Liwwät Böke-Materialien als echt akzeptieren“. Wenige Tage nach dem 23. Januar 1988 hat Luke Knapke meinen vorläufigen Befund vom 19. Januar 1988 erhalten. Er bezog sich, vor allem mit der Feststellung, es seien eindeutige Fälschungen, auf die „Pictures from my Childhood“, auf „Weaving and Spinning“, auf „My Early Life“, auf Tensions with Brunner“ und auf den „Plattdütsken Katholisken Katekismüs“.(5)

Als echt akzeptiert habe ich die Texte und Zeichnungen zunächst auch, bis ich, angeregt durch Marron F. Fort, nach Fehlern suchte und sehr bald einige gefunden habe. Abgesichert durch all die positiven Umstände und Freundlichkeiten und Erwartungen hatte bei mir zunächst das Interesse im Vordergrund gestanden, meine bisherigen Eindrücke und Urteile zu bestätigen (Verifikationsinteresse), nicht aber das wissenschaftlich vor allem gebotene Interesse, zu versuchen, sie zu widerlegen (Falsifikationsinteresse). John Baskin (Vgl. Anm. 3.) berichtet, ein Beobachter der Kontroverse habe das Ganze, d. h. meine Kritik und die von Marron F. Fort, „an intramural pissing match“, „einen inneruniversitären Pinkel-Wettbewerb“ genannt, und auch ich sei, nach einem Gespräch mit Luke Knapke in Minster (28. Mai 1988), dem meine kritischen Anmerkungen vom 19. Januar 1988 zugrunde lagen, von der Echtheit überzeugt, wieder abgereist. Luke Knapke wird zitiert: „ I think all parties felt relieved and gratified with the understandings gained” („Ich denke, alle Seiten fühlten sich erleichtert und erfreut über die Verständigung, die erreicht worden war.“).

Aber die Gefühle unterschieden sich. Es war für mich ein behutsames Gespräch, in dem wir einander nicht verletzen wollten, die Gesprächsform also bestimmender war als der Inhalt und jeder vermuten konnte, den anderen (ein wenig) überzeugt zu haben. Wir haben uns im Mai 1988 verständigt, aber jeder hat das Ergebnis anders gewichtet ohne dies abschließend auszusprechen: Für Luke Knapke war der Fälschungsverdacht weitgehend ausgeräumt, für mich blieb er weitgehend bestehen, auf der Grundlage einiger Eindeutigkeiten. Luke Knapke hat mögliche Erklärungen als hinreichend überzeugend, ich habe sie als nicht hinreichend überzeugend wahrgenommen. Die „Pictures from my Childhood . . .“ standen dabei im Vordergrund.

Also sei nun umfassender und öffentlich vorgetragen, was Teile des Buches und nicht im Buch veröffentlichte Texte und Abbildungen eindeutig als Fälschungen erweist, indem sie Liwwät Böke zugeschrieben, und als Plagiate, sofern diese von Zeichnern und Autoren übernommen werden. Das setzt alle anderen Teile dem mehr oder weniger dringenden Verdacht aus, gefälscht zu sein, ohne  dass über einen Verdacht hinaus ausgemacht werden könnte, welche Personen gefälscht haben könnten.

Weiter: Pictures from my Childhood


[1] Antonius Holtmann: Kein Meisterstück oder: Wie „Liwwät Böke“ mit fremden Federn geschmückt wurde. In: Yearbook of German-American Studies 34 (1999), 177-195.   -   In englischer Sprache (übersetzt von Susanne Osterkamp, Oldenburg) und um Abbildungen ergänzt: Antonius Holtmann: No Masterpiece or: How „Liwwät Böke“ Was Adorned With Borrowed Plumes. Columbus,OH: National Palatines to America 2001 (Pages from the Past, Number 7).   -   Vgl. Kathy S. Mason: A Permanent Record After the Author Forgotten: Immigration, Community, and the Writings of Liwwät Böke. In: Northwest Ohio Quarterly 74 (2002) 2, 63-83, bes. 80 f.. Die Autorin bezieht sich auf meine Rezension von 1999, ohne auf die kritischen Anmerkungen argumentativ einzugehen. Für sie bleibt das Buch authentisch. Das gilt auch für Helen Kaverman. Sie hat vom 2. Juni bis zum 7. Juli 2008 im Delphos Herald  (Delphos, OH, 45 km nördlich von Minster, OH) über "a Mercer County Pioneer Woman, Liwwat Boke" anhand des Buches ("Liwwät Böke, 1807-1882: Pioneer") berichtet, ihre Serie aber (vorerst?) abgebrochen.

[2] Raymond E. Crist; Luke B. Knapke, ed., Liwwät Böke, 1807-1882, Pioneer. In: Journal of Cultural Geography 10 (1990), 2, 113-115 (review). Diese Auflistung der Qualifikationen hat der Herausgeber Luke Knapke schon angeboten (12), allerdings ohne die lobenden Eigenschaftswörter creative, perceptive, gifted und devoted.

[3] Eleanor Brucker: Liwwät Böke, 1807-1882, Pioneer. In: The Palatine Immigrant 16 (1991) 2,  (review)

[4] John Baskin: Ohio’s First Liberated Woman. In: Ohio Magazine 18 (1995) 10, 87 f.

[5] MINSTER HISTORICAL SOCIETY, P. O. BOX 51; MINSTER, OHIO 45865: „To Whom It May Concern: The Trustees of the Minster Historical Society are aware of some controversy apparently originating with one individual, allegedly connected with the University of Oldenburg. The questions, allegations, suggestions and implications involved have been discussed in detail by the Trustees. All are refuted or explained to the complete satisfaction of the Trustees. We must and do accept the Liwwät Böke materials as genuine. (Signature) President, MINSTER HISTORICAL SOCIETY, January 23, 1988”. (Englischsprachiges Original der Erklärung der Minster Historical Society vom 23. Januar 1988.)
Am 16. Februar 1988 nahm die Minster Historical Society zu Protokoll: „Two professors in West Germany have expressed doubts about the originality of certain drawings of Liwwät Böke, and question some of her use of High and Low German. The Minster Historical Society has taken note of this. Liwwät herself stated that she copied drawings. More research may be forthcoming.   -   The Minster Historical Society published the translations of Liwwät Böke`s work because the trustees sincerely felt that this information would help the people of this area appreciate the difficulties experienced by their ancestors during the early years here in the virgin wilderness of western Ohio. The book has made no pretense of being a critical scholarly presentation, and no need was ever felt to question any of the papers”. („Zwei Professoren in Westdeutschland haben in Zweifel gezogen, dass einige Zeichnungen von Liwwät Böke stammen, und sie stellen ihren Gebrauch des Hoch- und Niederdeutschen in Frage. Die Minster Historical Society hat dies zur Kenntnis genommen. Weitere Nachforschungen könnten noch folgen.   -   Die Minster Historical Society hat die Übersetzungen des Werkes der Liwwät Böke veröffentlicht, weil die Vorstandsmitglieder der ehrlichen Überzeugung waren, dass diese Information den Menschen in dieser Region helfen würde, die Schwierigkeiten anzuerkennen, die ihre Vorfahren während der frühen Jahre hier in der unberührten Wildnis des westlichen Ohio erfahren haben. Das Buch hat nicht vorgegeben, eine kritische wissenschaftliche Darstellung zu sein, und man hat niemals die Notwendigkeit gesehen, die Echtheit auch nur eines der Papiere in Frage zu stellen.“). (Englischsprachig zitiert aus einem Brief von Luke Knapke an Dr. Don Heinrich Tolzmann, Cincinnati, vom 9. März 1995.)
Auch nach Erscheinen einer Erweiterung dieser Kritik an „Liwwät Böke 1802-1882 Pioneer“ in englischer Sprache (Vgl. Anm. 1.) ist die Minster Historical Society bei dieser Position geblieben: „We find no reason to change our mind. Until those who have doubts about the papers find someone else who can be shown conclusively to have written them the Minster Historical Society will continue to accept these writings as belonging to Liwwat Boke” („Wir sehen keinen Grund, unsere Überzeugung zu ändern. Bis zu dem Zeitpunkt, da diejenigen, die die Echtheit der Papiere bezweifeln, irgend jemand finden, der zwingend die Texte und Zeichnungen angefertigt haben muss, akzeptiert die Minster Historical Society sie als zu Liwwät Böke gehörend.“) (Englischsprachiges Protokoll der Versammlung der Society am 18. Juni 2004, zitiert aus The Community Post, Minster, vom 15. Juli 2004). Bis zum April 2009 sind 5600 Exemplare gedruckt worden: The Community Post, Minster, vom 1. April 2009.  -  Die Konstantinische Schenkung, zwischen 752 und 806 angefertigt, wurde im 15. Jahrhundert als Fälschung erkannt. Dieser Überzeugung hat  sich schließlich Mitte des 19. Jahrhunderts der Vatikan angeschlossen. Der bzw. die Fälscher sind bis heute nicht auszumachen. Die Person, die gefälscht hat, ist relativ unwichtig; entscheidend ist das Gewicht der Argumente.



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Forschungsstelle Deutsche Auswanderer in den USA - DAUSA * Prof.(pens.) Dr. Antonius Holtmann Brüderstraße 21 a -26188 Edewecht - Friedrichsfehn *Kontakt: antonius.holtmann@ewetel.net