Kein Meisterstück oder: Wie "Liwwät Böke" mit fremden Federn geschmückt wurde. Eine 2010 aufgefrischte und 2012 und 2019 umfangreich ergänzte Rezension.
Liwwät Böke. 1807-1882: Pioneer. The story of an immigrant pioneer woman and her husband who settled in western Ohio as told in her own writings and drawings. Compiled and edited by Luke B. Knapke. Minster, OH: The Minster Historical Society 1987
Einleitung
Taufregister zu Liwwät Knapke im Kirchenbuch Nr. 5. Bl. 131 von St. Bonifatius, Neuenkirchen i. O. (1807). Church Register / Number 5, 131, St. Bonifatius, Neuenkirchen (Oldenburg): Liwwät Knapke (1807). |
Fasziniert
war ich auch, als ich im Sommer 1986 in
Minster/OH einige Texte und Bilder einsehen und im Frühjahr 1987
Fotokopien der
mehr als 1000 Seiten nach Oldenburg mitnehmen konnte, großzügig und
hilfsbereit
zur Verfügung gestellt vom Herausgeber Luke B. Knapke. Im Herbst 1987
traf das
englischsprachige Buch ein. Ich habe es sofort in einer meiner
Lehrveranstaltungen benutzt. Eine plattdeutsch schreibende emanzipierte
katholische Frau in den Urwäldern von Ohio um die Mitte des neunzehnten
Jahrhunderts war zu verlockend, als dass ich es, kaum beachtet, in den
Bücherschrank gestellt hätte. Und diese Verlockungen im Kontext des
vertrauenserweckenden kleinstädtischen und familiären katholischen
Milieus von
Minster (Ohio) und Luke Knapkes Familie haben Zweifel erst gar nicht
aufkommen
lassen. Im Gegenteil: Das Ungewöhnliche bestätigte nur immer wieder die
Außerordentlichkeit der Liwwät Böke. Ein Plattdeutsch-Experte an der
Universität Groningen, dem ich einige Manuskriptproben mit Aussagen zur
plattdeutschen Sprache (Vgl. unten „Tensions with Brunner“.) zur
Beurteilung
geschickt hatte, nannte die Texte „erstaunlich“, und ein Experte für
nordwestdeutsche Kulturgeschichte vom Museumsdorf in Cloppenburg
bemerkte, es
könne sein, dass Liwwät Böke die „Pictures from my Childhood at Home in
Nellinghof and Neuenkirchen“ irgendwo abgezeichnet habe. Man vertraute
mir und
Luke B. Knapke und der Minster Historical Society.
Marron F.
Fort, Amerikaner aus Ohio und Mitarbeiter
der Universitätsbibliothek in Oldenburg, hat zuerst und entschieden der
Minster
Historical Society gegenüber auf der Grundlage der englischsprachigen
Ausgabe,
ohne die Manuskripte zu kennen, Bedenken geäußert (Dezember 1987) – und aufgrund
einiger Indizien gefolgert, zumindest große Teile
des Buches seien gefälscht: Er hat es nicht beim Verdacht belassen.
Mehr
als
einen Verdacht ließen diese Indizien aber
nicht zu. Anglizismen enthalte der Text: Er war z.T. ja auch in den USA
geschrieben. Neuenkirchen sei hochdeutsch geschrieben im plattdeutschen
Text,
da wäre eine Plattdeutsche doch in ihrer Sprache geblieben und hätte
„Nienkercken“ geschrieben: Das ist plausibel, aber nicht zwingend,
zumal Namen und Ortsnamen gern mit lateinischen Buchstaben geschrieben
wurden.
Wilhelmshaven habe es 1834/35 noch gar nicht gegeben, sei aber auf der
Karte
eingezeichnet, so auch West-Virginia, das erst im Bürgerkrieg
entstanden sei: Beides
könnte Liwwät Böke nachträglich eingetragen haben. Und der Anmerkung
von Marron
F. Ford, „German Catholics did not discuss sex in the nineteenth
century and
here in Oldenburg, they still don’t“ (Vgl. unten „Discussion and
Information“.),
kann leicht entgegengehalten werden, dass es immer Menschen gibt, die
ihrer
Zeit voraus sind.
So ist es
schon verständlich, dass die Minster
Historical Society am 23. Januar 1988 feststellte: „Die Fragen,
Behauptungen,
Andeutungen und
(stillschweigenden)
Folgerungen, die zur Diskussion stehen, sind von den
Vorstandsmitgliedern im
Detail besprochen worden. Sie sind alle zur vollen Zufriedenheit des
Vorstandes
zurückgewiesen und erklärt worden. Wir müssen (darum) die Liwwät
Böke-Materialien als echt akzeptieren“. Wenige Tage nach dem 23. Januar
1988
hat Luke Knapke meinen vorläufigen Befund vom 19. Januar 1988 erhalten.
Er
bezog sich, vor allem mit der Feststellung, es seien eindeutige
Fälschungen,
auf die „Pictures from my Childhood“, auf „Weaving and Spinning“, auf
„My Early
Life“, auf Tensions with Brunner“ und auf den „Plattdütsken Katholisken
Katekismüs“.(5)
Als echt akzeptiert habe ich die Texte und Zeichnungen zunächst auch, bis ich,
angeregt durch Marron F. Fort, nach Fehlern suchte und sehr bald einige
gefunden habe. Abgesichert durch all die positiven Umstände und
Freundlichkeiten und Erwartungen hatte bei mir zunächst das Interesse
im
Vordergrund gestanden, meine bisherigen Eindrücke und Urteile zu
bestätigen
(Verifikationsinteresse), nicht aber das wissenschaftlich vor allem
gebotene
Interesse, zu versuchen, sie zu widerlegen (Falsifikationsinteresse).
John
Baskin (Vgl. Anm. 3.) berichtet, ein Beobachter der Kontroverse habe
das Ganze,
d. h. meine Kritik und die von Marron F. Fort, „an intramural pissing
match“,
„einen inneruniversitären Pinkel-Wettbewerb“ genannt, und auch ich sei,
nach
einem Gespräch mit Luke Knapke in Minster (28. Mai 1988), dem meine
kritischen
Anmerkungen vom 19. Januar 1988 zugrunde lagen, von der Echtheit
überzeugt,
wieder abgereist. Luke Knapke wird zitiert: „ I think all parties felt
relieved
and gratified with the understandings gained” („Ich denke, alle Seiten
fühlten
sich erleichtert und erfreut über die Verständigung, die erreicht
worden war.“).
Aber die
Gefühle unterschieden sich. Es war für mich
ein behutsames Gespräch, in dem wir einander nicht verletzen wollten,
die
Gesprächsform also bestimmender war als der Inhalt und jeder vermuten
konnte,
den anderen (ein wenig) überzeugt zu haben. Wir haben uns im Mai 1988
verständigt, aber jeder hat das Ergebnis anders gewichtet ohne dies abschließend auszusprechen: Für Luke
Knapke war
der Fälschungsverdacht weitgehend ausgeräumt, für mich blieb er
weitgehend bestehen,
auf der Grundlage einiger Eindeutigkeiten. Luke Knapke hat mögliche
Erklärungen
als hinreichend überzeugend, ich habe sie als nicht hinreichend
überzeugend
wahrgenommen. Die „Pictures from my Childhood . . .“ standen dabei im
Vordergrund.
Also sei nun umfassender und öffentlich vorgetragen,
was Teile des Buches und nicht im Buch veröffentlichte Texte und Abbildungen
eindeutig als Fälschungen erweist, indem sie Liwwät Böke zugeschrieben,
und als Plagiate, sofern diese von Zeichnern und Autoren übernommen
werden. Das setzt alle anderen Teile dem mehr oder weniger dringenden Verdacht
aus, gefälscht zu sein, ohne dass über
einen Verdacht hinaus ausgemacht werden könnte, welche Personen gefälscht haben
könnten.
[2] Raymond E. Crist; Luke B. Knapke, ed., Liwwät Böke, 1807-1882, Pioneer. In: Journal of Cultural Geography 10 (1990), 2, 113-115 (review). Diese Auflistung der Qualifikationen hat der Herausgeber Luke Knapke schon angeboten (12), allerdings ohne die lobenden Eigenschaftswörter creative, perceptive, gifted und devoted.
[3] Eleanor
Brucker: Liwwät Böke, 1807-1882, Pioneer. In: The Palatine
Immigrant 16
(1991) 2, (review)
[4] John Baskin: Ohio’s First Liberated
Woman. In: Ohio Magazine 18 (1995)
10, 87 f.
[5]
MINSTER HISTORICAL SOCIETY,
P. O.
BOX 51; MINSTER, OHIO 45865: „To Whom It May Concern: The Trustees of
the
Minster Historical Society are aware of some controversy apparently
originating
with one individual, allegedly connected with the University of
Oldenburg. The
questions, allegations, suggestions and implications involved have been
discussed in detail by the Trustees. All are refuted or explained to
the
complete satisfaction of the Trustees. We
must and do accept the Liwwät Böke materials as genuine. (Signature)
President, MINSTER HISTORICAL SOCIETY, January 23, 1988”. (Englischsprachiges
Original der Erklärung der Minster Historical Society vom 23. Januar
1988.)
Am 16. Februar
1988 nahm die Minster Historical Society zu Protokoll: „Two professors
in West
Germany have expressed doubts about the originality of certain drawings
of
Liwwät Böke, and question some of her use of High and Low German. The
Minster
Historical Society has taken note of this. Liwwät herself stated that
she copied
drawings. More research may be forthcoming.
- The
Minster Historical
Society published the translations of Liwwät Böke`s work because the
trustees
sincerely felt that this information would help the people of this area
appreciate the difficulties experienced by their ancestors during the
early
years here in the virgin wilderness of western Ohio. The
book has made
no pretense of being a critical scholarly presentation, and no need was
ever
felt to question any of the papers”. („Zwei Professoren in
Westdeutschland haben
in Zweifel gezogen, dass einige Zeichnungen von Liwwät Böke stammen,
und sie stellen
ihren Gebrauch des Hoch- und Niederdeutschen in Frage. Die Minster
Historical
Society hat dies zur Kenntnis genommen. Weitere Nachforschungen könnten
noch
folgen. - Die Minster
Historical Society hat die Übersetzungen des Werkes
der Liwwät Böke veröffentlicht, weil die Vorstandsmitglieder der
ehrlichen
Überzeugung waren, dass diese Information den Menschen in dieser Region
helfen
würde, die Schwierigkeiten anzuerkennen, die ihre Vorfahren während der
frühen
Jahre hier in der unberührten Wildnis des westlichen Ohio erfahren
haben. Das
Buch hat nicht vorgegeben, eine kritische wissenschaftliche Darstellung
zu
sein, und man hat niemals die Notwendigkeit gesehen, die Echtheit auch
nur
eines der Papiere in Frage zu stellen.“). (Englischsprachig zitiert aus
einem
Brief von Luke Knapke an Dr. Don Heinrich Tolzmann, Cincinnati, vom 9. März 1995.)
Auch nach Erscheinen einer
Erweiterung dieser Kritik an
„Liwwät Böke 1802-1882 Pioneer“ in englischer Sprache (Vgl. Anm. 1.)
ist die
Minster Historical Society bei dieser Position geblieben: „We find no
reason to
change our mind. Until
those who
have doubts about the papers find someone else who can be shown
conclusively to
have written them the Minster Historical Society will continue to
accept these
writings as belonging to Liwwat Boke” („Wir sehen keinen Grund, unsere
Überzeugung zu ändern. Bis zu dem Zeitpunkt, da
diejenigen, die die
Echtheit der Papiere bezweifeln, irgend jemand finden, der zwingend die
Texte
und Zeichnungen angefertigt haben muss, akzeptiert die Minster
Historical
Society sie als zu Liwwät Böke gehörend.“) (Englischsprachiges
Protokoll der
Versammlung der Society am 18. Juni 2004, zitiert aus The
Community Post, Minster, vom 15. Juli 2004). Bis zum April
2009
sind 5600 Exemplare gedruckt worden: The
Community Post, Minster, vom 1. April 2009.
- Die
Konstantinische
Schenkung, zwischen 752 und 806 angefertigt, wurde im 15. Jahrhundert
als
Fälschung erkannt. Dieser Überzeugung hat
sich schließlich Mitte des 19. Jahrhunderts der Vatikan
angeschlossen.
Der bzw. die Fälscher sind bis heute nicht auszumachen. Die Person, die
gefälscht hat, ist relativ unwichtig; entscheidend ist das Gewicht der
Argumente.
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Forschungsstelle Deutsche Auswanderer in den USA - DAUSA * Prof.(pens.) Dr. Antonius Holtmann Brüderstraße 21 a -26188 Edewecht - Friedrichsfehn *Kontakt: antonius.holtmann@ewetel.net |