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Inge Karger :  

Politische Musik und Naive Musiktherapie

BIS-Verlag Oldenburg ISBN 3-8142-0757-2

In den 80er Jahren blühte die politische Musikkultur, und politische Lieder in einem Konzertsaal zu singen und zu spielen wurde gängige Praxis und oft Ritual politischer Bewegungen. Diese Funktionsverschiebung politischer Lieder beim Transfer von der Aktion auf der Straße in ein Konzert ließ die zweifelnde Frage entstehen: Entpolitisieren solche Konzerte nicht eher, indem sie dazu verleiten, die Musik selbsttherapeutisch einzusetzen, z.B. zur Behandlung von Mißbefindlichkeiten oder Leiden an der gesellschaftlichen Realität?

Ein erster Theorieschritt zeigt unter sozialpsychologischen Aspekten vier Funktionen der Kulturform "Konzert" auf: Das Konzert als gesellschaftliches Ritual, als öffentliche Musikdarbietung, als individuelles Erlebnis und als sozialer Raum einer politischen Bewegung. Ein nächster Schritt führt zu individuellen Gedankenprozessen im Konzert, denn die aus dem bürgerlichen Konzert übertragene Konvention, sich ruhig und motorisch passiv zu verhalten, begünstigt auch im politischen Konzert einen passiven Selbstbezug, und als Ersatz für durch Musik angeregte, aber unterdrückte Bewegungslust können Gedanken aktiviert werden. Ernst Blochs Konzept des Tagträumens bietet hier die Plattform zur Reflexion der Rolle von Phantasien im Konzert, und die Funktion der Musik wird relevant: Sie kann die Stimmung für Tagträume schaffen und innere Bilder im Sinne einer Phantasie als probehandelndes Denken mitgestalten. Ein weiterer Schritt widmet sich dem therapeutischen Gebrauch von Musik. Das hypothetische Konstrukt naive Musiktherapie wird entwickelt und fünf hypothetische Arten des Umgangs mit dem politischen Konzert werden operationalisiert. Naive Musiktherapie wird als laienhafte therapeutische Anwendung von Musik zur Selbstheilung definiert, die ihren Ursprung im Individuum hat.

Die Frage "Dient naive Musiktherapie im politischen Konzert der Entpolitisierung?" wird zur Grundlage einer qualitativ-empirischen Erkundung dieses "Forschungsneulands". Wiederaufführungen des szenischen Oratoriums "Proletenpassion" der Polit-Rock-Gruppe "Schmetterlinge" bieten 1987 die Gelegenheit, Publikumsmitglieder beim Betreten und Verlassen des Konzertsaals speziellen Befragungen zu unterziehen. Andere Publikumsmitglieder geben an den Folgetagen in fokussierten Interviews Einblick in ihr Konzerterleben. Die Musiker absolvieren nach den Konzerten Kurzbefragungen und später noch ausführliche Interviews zum Produktionsprozeß des Werks. Exemplarisch dokumentiert ein Videoband den Konzertverlauf, der in einem "Leporello" am Schluß der Arbeit dargestellt wird.

Die Datenauswertung mit verschiedenen methodischen Verfahren, u. a. mit der neuentwickelten Form der Interview-Berichte, zog sich über Jahre hin und überdauerte die Blüte dieser Musikkultur. Die Ergebnisse der Studie verbinden sich zum Bild einer Gruppe von Publikumsmitgliedern der untersuchten Konzerte und stellen heute, nach dem Abebben dieser Kultur, ein Zeitdokument dar. Oft dienten die Konzerte der Erinnerung an Zeiten früherer politischer Aktivität und Mitglieder der 68er-Generation verbinden das Werk mit ihrer Biographie - ein unerwartetes Phänomen! Diese "Revival"-Funktion könnte der Intention politischer Konzerte entgegenarbeiten. Die Interviews zeigen aber, daß die Erinnerung nicht rein regressiv ablief, sondern oft zur aktiven Aneignung der eigenen Biographie führte.

Die Interviews mit Publikumsmitgliedern sind Kern der Arbeit, und ihre Auswertung folgt drei "Schienen": Die erste beinhaltet biographische Selbstbeschreibungen der Interviewten mit dem Bezug zur Musik, die zweite systematisiert die Inhalte der Interviews in zwölf Kategorien des individuellen Umgangs mit dem Polit-Konzert und die dritte ergibt acht Typen politischer Involviertheit, die (unerwartet) aus dem Datenmaterial herausgearbeitet werden konnten. Dieser Teil der Untersuchung zeigt, daß die Besucher und Besucherinnen der Konzerte zur Anwendung der naiven Musiktherapie neigen, die allerdings nicht den Weg einer rein regressiven Versenkung in die innere Eigenwelt des Individuums geht.

Die Befürchtung, naive Musiktherapie könne im politischen Konzert dessen Intention ad absurdum führen und entpolitisierend wirken, bestätigt sich nicht. Der Selbstbezug im Konzert ebnet hier andere Wege und erzeugt produktivere Formen als die der rein regressiven Selbstversenkung. Er wird sogar in den Fällen, in denen im Konzert in regressive Erinnerungen eingetaucht wird, produktiv gewendet und mündet in Anstöße zur Politisierung, entpolitisiert also nicht - entgegen der anfänglichen Erwartung!

Die Ergebnisse der Arbeit zeigen, daß ein politisches Konzert, das ursprünglich mit belehrend-informationsvermittelndem Tenor im mitreißenden Stil konzipiert war, von den Rezipienten für ihre eigenen Bedürfnisse eingesetzt wird: Die Publikumsmitglieder eignen sich dabei aktiv an, was sie sich aneignen wollen, und das ist nicht unbedingt das, was ihnen vermittelt wird. Hierbei bietet naive Musiktherapie eine Möglichkeit, über Kognitionen und Emotionen antizipatorisches Bewußtsein zu fördern und so auf individuelle Politisierungsprozesse Einfluß zu nehmen, die ihren Ursprung im Individuum haben.


Vortrag

anlässlich der öffentlichen Buch-Präsentation am 8.3.2001 in Wien (in Verbindung mit einem Nostalgie-Konzert der "Schmetterlinge")
   

Mein Buch trägt den Titel "Politische Musik und naive Musiktherapie" - Eine Untersuchung zum Erleben politischer Konzerte in den 80er Jahren am Beispiel von Aufführungen des szenischen Oratoriums Proletenpassion der Polit-Rock-Gruppe Schmetterlinge.

In meinen Ausführungen zum Konzerterleben beansprucht das Konstrukt naive Musiktherapie viel Raum. Naive Musiktherapie habe ich definiert als laienhafte therapeutische Anwendung von Musik zur Selbstheilung, die ihren Ursprung im Individuum hat. Es geht also hier um eine selbsttherapeutische Anwendung von Musik im Zusammenhang mit politischen Konzerten, und eines der einführenden Kapitel des Buches widmet sich daher auch speziell dem therapeutischen Musikgebrauch.

Sie könnten vielleicht fragen, was mich bewegt hat, ein Buch zu diesem Thema zu schreiben. Nun, das ist schnell erklärt.

Der politischen Musik gilt schon lange mein Interesse, und während der Studienzeit erlebte ich sie oft in ihrer eigentlichen Bestimmung, nämlich in politischen Aktionen. Dies war insbesondere Ende der 70er Jahre der Fall, als Sie hier in Wien wie im übrigen Österreich erfolgreich gegen das Atomkraftwerk Zwentendorf kämpften.

In den 70er/80er Jahren hatten politische und gesellschaftskritische Konzerte in politischen Kämpfen ihre Funktion (neben den vielen Demonstrationen), und politische Lieder von der konkreten Aktion in den Konzertsaal zu transferieren, wurde immer mehr gängige Praxis und sogar Ritual politischer Bewegungen. Als Besucherin dieser Konzerte dachte ich oft:

Warum hört sich ein Publikum politische Lieder in einem Konzertsaal an, denn eigentlich haben diese Lieder doch ihre Funktion in der politischen Aktion, zum Beispiel bei Demonstrationen oder Kundgebungen zum 1.Mai., und warum spielen Musiker diese Musik im Saal?

Es kamen mir Zweifel an der politisierenden Wirkung solcher Konzerte und ich fragte mich, ob sie nicht eher entpolitisieren, indem sie dazu verleiten, politische Musik oder das Konzert selbsttherapeutisch einzusetzen, z.B. um Mißbefindlichkeiten zu vertreiben oder individuelles Leiden an der gesellschaftlichen Realität zu lindern.

Ich stellte die These auf, daß politische Musik oder Lieder, wenn sie von der Straßenaktion in den Konzertsaal transferiert werden, eine Funktionsverschiebung erfahren, denn in der politischen Aktion hat die Musik definierte Funktionen, im politischen Konzert sind diese nicht so klar. In einem Forschungsprojekt ging ich der Frage nach: "Dient naive Musiktherapie im politischen Konzert der Entpolitisierung?".

Antworten auf diese Frage gibt mein Buch, das von der Universität Oldenburg im letzten Jahr als Philosophische Dissertation angenommen wurde und das ich Ihnen hier nun vorstelle.

Was erwartet Sie neben diesen Antworten, wenn Sie sich durch das Buch arbeiten? Sie finden recht viele Informationen zu einer politischen Musikkultur, die in den 70er und 80er Jahren in voller Blüte stand und nach den Veränderungen der sie tragenden politischen Bewegungen derzeit abgeebbt und fast eingeschlafen ist.

Weil Verhaltensweisen und -regeln eines "bürgerlichen" Konzerts sich auch im politischen Konzert wiederfinden zeige ich unter sozialpsychologischen Aspekten vier Funktionen der Kulturform "Konzert" auf: Das Konzert als gesellschaftliches Ritual, als öffentliche Musikdarbietung, als individuelles Erlebnis und als sozialer Raum einer politischen Bewegung.

Ein nächster Schritt führt zu individuellen gedanklichen Prozessen im Konzert, denn die aus dem "bürgerlichen" Konzert übertragene Konvention, sich motorisch ruhig zu verhalten, be-günstigt auch im politischen Konzert einen passiven Selbstbezug.

Die Aufmerksamkeit ist nicht - wie auf Demonstrationen - durch konkrete Anforderungen der Situation gefangen, und die Publikumsmitglieder können sich in Gedanken ausagieren. Dabei können sie die Energien der verhinderten motorischen Aktivität in "innere Bewegung" kanalisieren, gewissermaßen als Ersatz für durch Musik angeregte, aber unterdrückte Bewegungs-lust. Sie können sich einfach der Musik hingeben und ihre Gedanken ungerichtet treiben lassen, können aber auch konkrete Vorstellungen und Phantasietätigkeit aktivieren.

Ich stellte regressiv-vergangenheitsbezogene und progressiv-zukunftsgerichtete Phantasien gegenüber, maß aber für Prozesse einer Politisierung den letzteren größere Bedeutung zu, denn imaginative Vorstellungen einer besseren Realität enthalten immer ein utopisches Element.

Hier erhält Ernst BLOCHs Konzept des Tagträumens Relevanz. Danach kann produktive politische Phantasie im Tagtraumdenken durch "antizipatorisches Bewußtsein" als "Träumen nach vorwärts" entstehen.

Das Medium des Tagträumens ist dabei die Stimmung und der Musik kommt hier eine große Bedeutung zu: Sie kann eine Stimmung erzeugen, in der Tagträume sich entwickeln, auch im politischen Konzert.

Ihre Richtung erhalten Tagträume von den Erwartungsaffekten (z.B. Hoffnung oder Furcht).

Im Ausmalen von Phantasie-Bildern im politischen Konzert sah ich eine mögliche Vorstufe zur politischen Handlung. Ich versuchte, diesen Vorstellungen auf die Spur zu kommen und legte dabei folgenden Gedankengang zugrunde:

Wenn ein politisches Konzert "Hoffnung" vermittelt, und diese die Richtung des Tagtraums bestimmt, besteht die Chance, daß in der Stimmung des Konzerts die "Hoffnung" in einen vorwärts gerichteten Tagtraum eingeht und dessen Bilder mitgestaltet. Die Phantasien ziehen dann ins "Noch-Nicht-Bewußte", ins Utopische, sie enthalten nicht nur bereits Dagewesenes, sondern antizipieren die Zukunft als eine andere und bessere.

Die Tagtraumphantasien sind kommunizierbar, also durfte ich erwarten, sie in einer Untersuchung "einfangen" zu können, vorausgesetzt, sie entstehen im Konzert.

Selbsttherapeutischer Musikgebrauch im politischen Konzert stand im Zentrum meiner empirischen Erkundung. Die nun vorliegenden Ergebnisse verbinden sich zu einem Bild einer Gruppe von Publikumsmitgliedern politischer Konzerte und stellen heute, nach dem Abebben dieser Kultur, ein anschauliches Zeitdokument dar, das gängige Klischees von der (angeblich so inaktiv gewordenen, saturierten) 68er-Generation revidieren kann.

Ein Kapitel "Mit Polit-Musikern auf Tournee..." beschreibt diese spezielle Form der Datenerhebung entlang einer Tournee der Schmetterlinge und enthält neben einem Blick auf die po-litischen Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1987 eine Charakterisierung der Gruppe Schmetterlinge, sowie Auszüge aus ihren Interviews zum Produktionsprozeß der Proletenpassion. Unter dem Namen "Sechsstimmige Harmonie..." widmet sich ein anderes Kapitel ihrer Kommunikation in den untersuchten Konzerten.

Kernpunkt der Arbeit sind 66 intensive Interviews mit Konzertbesucherinnen und -besuchern. Ihre Auswertung ergab biographische Selbstbeschreibungen mit dem Bezug zur Musik und der individuelle Umgang mit dem Polit-Konzert wurde dargestellt. Als unerwartetes Ergebnis wurden verschiedene Typen politischer Beteiligung im Publikum der Konzerte gefunden.

Es zeigte sich in meiner Untersuchung, daß Konzertbesucher und -besucherinnen zur Anwendung naiver Musiktherapie neigten, und oft dienten die Konzerte der Erinnerung an frühere Zeiten politischer Aktivität. Speziell Publikumsmitglieder der 68er-Generation verbanden die Schmetterlinge oder die Proletenpassion mit ihrer Biographie! Eine derartige "Revival"-Funktion könnte der Intention politischer Konzerte entgegengearbeitet haben. Die Interviews zeigen aber, daß die Erinnerung nicht rein regressiv ablief, sondern oft zur aktiven Aneignung der eigenen Biographie führte.

Meine Befürchtung, naive Musiktherapie könne im politischen Konzert dessen Intention ad absurdum führen und entpolitisierend wirken, bestätigte sich nicht. Der Selbstbezug ebnete andere Wege und erzeugte produktivere Formen als die der rein regressiven Selbstversenkung. Er wurde sogar in den Fällen produktiv gewendet, in denen der Konzertbesuch erfolgte, um sich in Nostalgie zu ergehen und passiv-regressive Erinnerungen an vergangene Zeiten politischer Betätigung wiederzuerwecken. Nach den vorliegenden Ergebnissen mündete er häufig in Anstöße zur Politisierung, entpolitisierte also nicht - entgegen meinen Erwartungen!

Meine Arbeit zeigt, daß ein politisches Konzert, das ursprünglich mit belehrend-informations-vermittelndem Tenor im mitreißenden Stil konzipiert war, von den Rezipienten für ihre eigenen Bedürfnisse eingesetzt werden konnte:

Die Publikumsmitglieder eignen sich dabei aktiv an, was sie sich aneignen wollen, und das ist nicht unbedingt das, was ihnen vermittelt wird!.

Und dieses Ergebnis hat Konsequenzen für ein politisch intendiertes Konzert: Eine Politisierung kann den - oft beschrittenen - Weg über Vermittlung von informativen Botschaften nehmen, und der kann gezielt als Inhalt eines Polit-Konzerts geplant werden, wie es in der Proletenpassion der Schmetterlinge auch der Fall gewesen ist. Für bewußtes (und erfolgreiches) politisches Handeln, wird aber mehr benötigt: Es bedarf der aktiven Aneignung, und zwar nicht nur der kognitiven, sondern auch der emotionalen Anteile des individuellen Erlebens.

In die Diskussion will ich drei Thesen einwerfen:

1. Im Live-Erlebnis eines politischen Konzerts kann sich die Funktion der Musik verändern und dem Konzertbesuch naiv-therapeutische Wirksamkeit anheften. Kommt eine selbsttherapeutische Intention hinzu und erhält der Konzertbesuch die Funktion einer Handlung zur Selbstheilung, dient das politische Konzert einer naiven Musiktherapie, die durch Einbezug kognitiver und emotionaler Anteile des individuellen Erlebens ein "Träumen nach vorwärts" in eine bessere Zukunft begünstigen und Politisierungsprozesse anstoßen kann.

2. Das politische Konzert bietet unter dem Aspekt des "sozialen Raums einer politischen Bewegung" ein Refugium zur Rezeption politischer Musik und Kundtun politischer Einstellungen, es ermöglicht durch seine geschlossene Tür ungestörtes, geschütztes Ausagieren politischer Überzeugungen von Mitgliedern unterschiedlicher politischer Richtungen.

3. Die in den 70er und 80er Jahren blühende politische Musikkultur ist derzeit eingeschlafen, politische Musik scheint an Gebrauchswert verloren zu haben, denn sie ist an politische Bewegungen gebunden. Und wenn ein politisches Konzert nicht in eine konkrete politische Aktion hineinfällt, wirkt es eher als Kunstwerk und nicht als politisches Agitationsmittel. Es mobilisiert vordergründig weniger stark, kann aber trotzdem Politisierungsprozesse anstoßen.

Kontakt: inge.karger@uni-oldenburg.de