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"Musik und Aggressivität" von Carsten Stöver 

 

Pressemitteilung: „Musik und Gewalt" - Neue Ergebnisse einer empirischen Untersuchung

Die wissenschaftliche Diskussion um „Musik und Gewalt" ist polarisiert in die alltäglichen Beobachtungen gewalttätiger Handlungen im Umfeld gewisser Musikdarbietungen (Stichwort: Rolling Stones, Heavy Metal, Oi!-Musik, Rechtsrock) und in die Katharsisthese, derzufolge Musik der Abfuhr von Energien, der Verarbeitung von Gewaltphantasien, kurz der Behinderung gewalttätiger Handlungen dienen kann. Die moderne Musikpsychologie faßt dies Dilemma dahingehend zusammen, daß sie betont, die Wirkung von Musik hänge von vielen außermusikalischen Faktoren ab, die bei der Frage nach Kausalitäten zwischen Musik und Gewalthandlungen mit berücksichtigt werden müßten.

In einer Befragung von 200 Jugendlichen an 8 städtischen und 6 ländlichen Jugendzentren hat Carsten Stöver vom Fachbereich 2 Kommunikation/Ästhetik der Universität Oldenburg einige solcher Bedingungszusammenhänge erstmals explizit untersucht und hat dabei Ergebnisse erzielt, die für die Musikpädagogik und Jugendsozialarbeit von Interesse sind. Die „Neigung zu aggressivem Verhalten" wurde mit dem standardisierten Freiburger Persönlichkeits-Inventar erfaßt und mit Daten über Musikpräferenzen, charakteristischen Umgangsweisen mit Musik, Musikverwendung in Situationen von Ärger und Trauer sowie dem Stellenwert, den Musik für die Befragten hat, korreliert.

Es konnten drei Gruppen von Musikpräferenzen („Cluster") festgestellt werden: die „Freunde gitarrenlastisger Rockmusik", „Technopop-Fans" und „Liebhaber angesagter Musikstile" mit einer Häufigkeit von 50:25:25 %. Auf der „Aggressivitätsskala" unterschieden sich diese drei Gruppen nicht signifikant. In Situationen von Ärger oder Trauer setzen die Jugendlichen aber eindeutig unterschiedliche Musik ein. Je höher die Neigung zu aggressivem Verhalten ausgeprägt ist, umso mehr neigen die Jugendlichen auch dazu, Ärger mit aggressiver Musik zu verarbeiten, während in Situationen von Trauer der Wunsch nach trauriger Musik bei den Aggressiven signifikant stärker ausgeprägt ist als bei den weniger Aggressiven. Allerdings konnte nicht festgestellt werden, daß Musikpräferenzen als Indikator eines Persönlichkeitsmerkmals verwendet werden dürfen, daß also vom Hören aggressiver Musik auf eine Neigung zu aggressivem Verhalten geschlossen werden kann. Es konnte hingegen festgestellt werden, daß Jugendliche mit Neigung zu aggressivem Verhalten Musik eher „stimulativ" einsetzen und auch Musik eher „assoziativ" hören.

Mit den Ergebnissen dieser empirischen Studie wird ein detaillierter Einblick in die komplizierten Wirkungszusammenhänge von Musik, Persönlichkeit und Handlung gewährt. Carsten Stöver sagt daher, daß viele Ängste vor einer gewaltauslösenden oder aggressionsfördernden Wirkung von Musik unbegründet seien.

Das Projektteam: Prof. Dr. Thomas Münch (Musikhochschule Würzburg), Carsten Stöver, Prof. Dr. Wolfgang Martin Stroh (Universität Oldenburg)

Kurzfassung der Untersuchung


Carsten Stöver: Die Welt zertrümmern? Eine empirisch quantitative Untersuchung zum Zusammenhang von Musikkonsum und aggressivem Verhalten. Oldenburg 29.12.1999

Zusammenfassung von Wolfgang Martin Stroh

1.

Die Diskussion um „Musik und Aggressivität" bewegt sich im Dilemma zwischen den extremen Antworten der Katharsis-These und der Behauptung von einer direkt aggressionsfördernden oder -auslösenden (oder enthemmenden) Wirkung von Musik. Das Dilemma ist darin begründet, daß hier stets ein direkter Wirkungszusammenhang von Musik und Agrrssivität angenommen wird. Diese Annahme ist aufzugeben. Wie sehen die Zusammenhänge aber dann aus, wenn nicht „direkt"?

Die vorliegende Studie dreht die Fragestellung zunächst um:

„Aggressivität als Persönlichkeitsmerkmal wirkt auf die Beurteilung von Musik und somit auf Aspekte des Musikkonsums ein".

Es wird also untersucht, inwiefern Menschen mit aggressiven Neigungen anders mit Musik umgehen als andere. Dabei wird das Instrumentarium des Freiburger Persönlichkeitsprofils zur „Messung" von „aggressiven Neigungen" angewandt.

Inwiefern ist diese Umkehrung der Fragestellung doch wichtig mit Bezug auf die eigentlich interessante Frage, ob Musik aggressives Verhalten fördern oder aggressive Handlungen auslösen kann?

Zwischen aggressivem Verhalten (oder Neigungen) und Musikkonsum besteht eine Wechselwirkung. Wenn festgestellt wird, daß Menschen mit aggressiven Neigungen andere Musik hören oder mit Musik anders umgehen, dann ist anzunehmen, daß ebendiese Musik auch aggressive Neigungen unterstützt (reproduziert) und nicht „abturned".

2.

Die Untersuchung beruht auf einigen Grundannahmen, die nicht in Frage gestellt werden:

3.

Die Variablen der Untersuchung sind:

0 1 2 3 4 5
subj. Bewertung von Musik Persönlichkeit Situation

Musikart („Fans")

Umgangsweise subj. Stellenwert von Musik
aggressiv neigt zu Aggr. Ärger Gitarrenlastige RM stimulativ hoch
nicht aggressiv neigt nicht zu Aggr. Trauer Techno kompensatorisch niedrig
      angesagte Stile    

Variable 1 wird als „unabhängig" genommen, die anderen werden als davon abhängig betrachtet oder als Zusatzbedingungen (im folgenden in Klammern) verstanden. Entsprechend sind 3 Hypothesen formuliert:

Hy 1: Variable 1 - Variable 0

Hy 2: Variable 1 - (Variable 2) - Variable 3

Hy 3: Variable 1 - (Variable 5) - Variable 4

4.

wurde im wesentlichen bestätigt: je aggressiver ein Jugendlicher, um mehr präferiert er Musik, die er selbst als „aggressiv" empfindet (einschätzt).

Es ergab sich eine 3-teilige Skala der Variablen 3:

Bei direkter Betrachtung Variable 1 Ò Variable 3 ergaben sich keine signifikanten Ergebnisse. Das heißt, daß die Angaben zu Präferenzen nicht mit Aggressivität korrelieren.

Situation Ärger: je höher aggressive Neigung (Var 1), umso größer Neigung zu aggressiver Musik (Var 0 und 3).

Situation Trauer: je höher aggressive Neigung (Var 1), umso größer Neigung zu „trauriger" Musik (Var 0 und 3). - Jedoch ist dieser Zusammenhang erheblich weniger ausgeprägt als bei Ärger.

Stimulative Umgangsweise: bei aggressiver Neigung wird mit Musik eher stimulativ umgegangen. Es liegt keine Abhängigkeit von Variable 5 („Stellenwert") vor.

Kompensatorische Umgangsweise: keine Abhängigkeit von aggressiver Neigung (Variable 1), aber vom „Stellenwert" (Variable 5).

Nebenergebnis: je höher aggressive Neigung, umso mehr wird „assoziativ" gehört.

 4.

Jugendliche präferieren Musik aufgrund der empfundenen „Agressivität" der Musik. Jugendliche mit geringer Neigung zur aggressivem Verhalten präferieren vielleicht dieselbe Musik wie Jugendliche mit hoher Neigung - nur die ersteren schätzen dieselbe Musik anders („weniger aggressiv") ein...

Jugendliche mit aggressiven Neigungen wählen in emotional belastenden Situationen wie Ärger und Trauer ausgeprägter als „aggressiv" und „traurig" eingeschätzte Musik. Das bedeutet, daß diese Jugendliche auch im Musikbereich „eine höhere Dosis" beim Verfolgen des ISO-Prinzips benötigen. Zudem auch das ISO-Prinzip favorisieren.

Deutlich ist, daß Jugendliche mit aggressiven Neigungen mit Musik verstärkt stimulativ umgehen.

Bei der Untersuchung fehlten Jugendliche mit sehr niedriger „aggressiver Neigung" (auch als Vergleichsgruppe). Die Klientel entstammte ausschließlich Jugendzentren. - Dies macht das Ergebnis aber eher noch brisanter.

 5.

Gibt es Schlußfolgerungen zur Frage der „Angst Erwachsener vor aggressionsauslösender Musik"? Indirekt ja:

Wenn die Studie sagt, daß die Ängste vor aggressionsauslösender Wirkung von Musik unbegründet sind, so heißt dies also nicht, daß es keine Korrelationen zwischen „aggressiven Neigungen" und spezifischen Umgangsweisen mit Musik - vor allem in emotional belastenden Situationen - gibt. Dies heißt lediglich, daß man die aggressionsauslösende Wirkung nicht an der Musik (alleine) festmachen und niemals als eine Eigenschaft von Musik betrachten darf.

Musik „an sich" löst nichts aus, sondern Musik wirkt im Zusammenhang spezifischer musikalischer Tätigkeiten. Diese Tätigkeiten im Kontext von komplexer Tätigkeiten und zudem als ein sich selbst reproduzierendes System - als einen Regelkreis - zu betrachten, das sollte das Modell für zukünftige weiterreichende Untersuchungen sein.

Die „Schuld- oder Ursachenzuweisung" von Aggressivität auf Musik(konsum) entlastet zwar die verantwortlichen PolitikerInnen und die Bevölkerungsmehrheit und ist daher höchst attraktiv. Sie ist aber wissenschaftlich unhaltbar, folglich politisch unbrauchbar und kontra-produktiv.

Der Projektbericht war im August 2000 als CD-ROM erhältlich sein. Die Auflage ist derzeit ausverkauft.